Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Im Hafen

Das Märchen von der Flunder

Es war einmal eine Frau, die war mit einem Experten verheiratet. Sie wohnten zusammen in einer Zweizimmerwohnung in der Nähe des Hafens, und der Experte machte alle Tage Überstunden und gab sein Bestes, während seine Frau nach ihrer Arbeit oft am Hafen saß und den wenigen dort verbliebenen Fischen zuschaute.

Da sah sie eine Flunder, die an der Wasseroberfläche nach Luft schnappte. Die Frau wunderte sich und rief spontan: "Wieso kannst du denn die Luft über dem Wasser atmen?"

Zu ihrer großen Überraschung antwortete die Flunder in verständlichen Worten: "Die ist immer noch besser als die Brühe hier unten. - Hör mal, Frau, da ich dich hier treffe, ich bitte dich um einen Gefallen. Du hörst ja, ich bin keine richtige Flunder, ich bin eine verwunschene Prinzessin. Ich muss einen Menschen glücklich machen, dann erhalte ich eine Chance, wieder ein Mensch zu werden. Kannst du mir helfen?"

"Nun", sagte die Frau, "eine Flunder, die sprechen kann - ich weiß nicht, ob ich das glauben soll. Aber - wenn du meinen Mann glücklich machen willst, da wüsste ich was. Er ärgert sich schwarz über diese blöde Wohnlage. Besorg ihm ein Haus, und er ist glücklich." Da ging die Flunder auf Grund und ließ einen langen Streifen Bläschen hinter sich. Die Frau dagegen ging kopfschüttelnd nach Hause.

Ihr Mann, der Experte, war schon vor ihr daheim angekommen, was in den zehn Jahren ihrer Ehe noch nie vorgekommen war. "Ilse", sagte er aufgeregt zu seiner Frau, "wir werden umziehen! Ich werde befördert, und wir ziehen in das Haus meines Vorgängers. Gartenstadt, beste Lage!"

Die Frau wunderte sich, sagte aber nichts von der Flunder, denn das konnte ja nur ein Zufall sein. Sie zogen um, und nach einigen Wochen fragte sie ihren Mann: "Bist du nun glücklich?"

"Ach", antwortete er, "ich habe ja nun einen viel weiteren Weg zur Arbeit. Hätte ich nur einen BMW, oder wenigstens einen Audi!"

"Ob es die Flunder noch gibt?", sagte die Frau nachdenklich und mehr zu sich selbst.

"Welche Flunder?", fragte der Experte, aber in Gedanken war er schon wieder bei der Arbeit. Am nächsten Tag fuhr die Frau mit dem Bus zum Hafen. Das Wasser war ganz grün und gelb, schmutziger noch, als sie es in Erinnerung hatte. Aus Langeweile stellte sie sich hin und sang:

"Flunder, Flunder, Timpe Te,
schwimmst du noch hier in der See?
Mein lieber Mann ist gar nicht froh
und glücklich auch nicht, sowieso."

Da kam die Flunder angeschwommen und fragte: "Na, was will er denn?" - "Ach", sagte die Frau, "das Haus genügt ihm nicht, jetzt will er ein schnelles Auto." - "Geh nur", sagte die Flunder, "er hat es schon."

Da fuhr die Frau heim, und vor der Tür stand ein blitzender BMW, und heraus stieg der Experte und strahlte. "Ich muss auf Dienstreise", sagte er, "und das hier ist mein neuer Dienstwagen. Ich kann ihn auch privat fahren. Toll, was?"

"Ja", sagte die Frau, "so soll es bleiben; nun wollen wir glücklich sein."

Aber der Experte war schon wieder unterwegs. Als er von einer seiner Dienstreisen zurückkam, fragte sie ihn: "Bist du nun glücklich?"

"Ach", antwortete er, "mein Computer ist so langsam, und mein Smartphone schon so alt. Ich komme gar nicht recht nach. Immer empfange ich die wichtigen Nachrichten zu spät. Hätte ich nur ein IPad!"

Die Frau überlegte und sagte nichts. Am nächsten Tag fuhr sie zum Hafen. Als sie dort ankam, war das Wasser ganz violett und dunkelblau und grau und dick, gar nicht mehr so grün und gelb, doch war es noch still. Da stellte sie sich hin und sang:

"Flunder, Flunder, Timpe Te,
schwimmst du noch hier in der See?
Mein lieber Mann ist gar nicht froh
und glücklich auch nicht, sowieso."

"Na, was will er denn?" fragte die Flunder. "Ach", sagte die Frau betrübt, "er will ein IPad."

"Geh nur hin, er hat es schon", sagte die Flunder.

Als die Frau nach Hause kam, lief ihr Mann aufgeregt im Wohnzimmer hin und her, wischte immer wieder über ein IPad und redete hinein. Aus dem Gerät kamen wechselnde Stimmen.

"Was machst du?", fragte sie ihn.

"Pscht", antwortete er unwirsch, "wichtige Videokonferenz."

Dann lief er hinaus, warf das IPad auf den Beifahrersitz seines BMW und fuhr davon. Sie sah ihn nun noch seltener als früher, immer machte er Überstunden, war auf Dienstreise oder konferierte sogar um Mitternacht noch per IPad mit Geschäftspartnern aus aller Welt.

Eines Sonntags, als er gerade von einer Dienstreise zurück war, fragte sie ihn: "Bist du nun glücklich?"

"Ach", antwortete er, "was heißt das schon. So viel zu tun, und nie ist es genug. Könnte ich doch eine neue Welt schaffen!"

Die Frau sah ihn sprachlos an und flüsterte: "Das wird die Flunder nicht schaffen."

"Welche Flunder?", fragte der Experte und war schon wieder unterwegs zu seinem BMW.

Die Frau fuhr traurig zum Hafen. Da war das Wasser ganz schwarz und dick und fing an, so von unten herauf zu schäumen, dass es Blasen warf; und es ging ein Wirbelwind darüber hin. Und die Frau ergriff ein Grauen. Da stand sie nun und sang:

"Flunder, Flunder, Timpe Te,
schwimmst du noch hier in der See?
Mein lieber Mann ist gar nicht froh
und glücklich auch nicht, sowieso."

Die Flunder tauchte auf und hustete. "Na, was will er denn?" fragte sie.

"Ach, Flunder", sagte die Frau, "mein Mann will … will …"

"Nur heraus damit", keuchte die Flunder, "er soll ja glücklich werden. Lange halte ich es hier nicht mehr aus."

"Er will … eine neue Welt schaffen", brachte die Frau kläglich heraus.

Da brauste das Wasser auf, schlug über der Flunder zusammen und klatschte der Frau ins Gesicht. Sie schrie auf und rannte davon, eine Straße, noch eine, dann stand sie vor dem Haus, in dem sie früher gewohnt hatten und stolperte geradewegs in die Arme ihres Mannes.

"Was tust denn du hier?", fragte sie atemlos.

Er zuckte mit den Schultern. "Job weg, Auto weg, ich weiß nicht mehr weiter."

"Komm", sagte sie, "Vielleicht ist unsere Wohnung hier noch frei."

© Brigitte Hutt 2018, frei nach den Brüdern Grimm

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