Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Nabelschau

Ein kritischer Blick auf den Menschen des zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts zeigt uns das folgende. Eine ungeheure und gewaltige Folge von Strömungen ist über uns hereingebrochen und hat ihre Spuren hinterlassen. Der Kommunismus hat die Gesellschaften gepackt wie eine Flutwelle und wirkt nach in immer wieder aufbegehrenden kleinen Wirbeln. Der Kapitalismus wuchs zu einer unüberschaubaren Brandung und bildete ein Meer, dessen Tiefe kaum auszuloten ist und in dem es für die meisten unmöglich ist, dem Versinken zu entgehen. Der Nationalismus, besser: die Nationalismen bilden Strudel, die in- und gegeneinander wirbeln ohne Unterlass, die mitreißen und ausspucken, die nicht loslassen, wen sie einmal gepackt haben und erbarmungslos an Felsen werfen, wer versucht, gegen sie zu schwimmen. Zwischen all diesen Strömungen, diesen "ismen", plätschern weitere, größere und kleinere, kaum dass man noch die Grenzen und Übergänge erkennen kann. Im Mittelpunkt dieses Weltmeeres der Mensch, durch Aufklärung und Wissenschaft entkleidet von dem jahrtausendealten Glauben an einen Gott, in dessen Hand er geborgen sein könnte, mit zerrissenen Gewändern, die seine Kultur waren, mit zerrauften Haaren auf dem Kopf, dem das Denken trotz allen Fortschritts nicht leichter fällt als seinen Ahnen. Ecce homo.

Aber er hat seinen Selbsterhaltungstrieb, noch immer. Jede Ideologie, Religion, jeder "ismus" kam und ging, stieg auf und wurde enttarnt; was allein blieb, war und ist: er selbst, der Mensch. So lag und liegt es nahe, dass er (und natürlich sie!) sich an dieses eine Kontinuum hält, ja klammert, und sich selbst in den Mittelpunkt alles Seins stellt.

Hieß es einst: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu", so handele ich heute nach der Devise: "Wenn du nicht willst, was man dir tu, dann füg' es schneller andern zu". Hieß es zwischenzeitlich: "Man darf alles, man darf sich nur nicht erwischen lassen", so mündet das hier und jetzt in öffentlichen Egoismus und Rücksichtslosigkeit. Beispiele?

Meinen Unrat einfach irgendwo fallen lassen? Wieso nicht. Übrigens ist das kein Unrat, das ist Lifestyle.

Mit dem Auto den Gehweg nehmen? I do it my way.

Parkverbote? Geschwindigkeitsbegrenzungen? Sind für Weicheier. Für Schattenparker!

Steuern hinterziehen? Schön dumm, wer es nicht tut.

Die Umwelt ausbeuten? Dafür ist sie schließlich da.

Hauswände besprühen? Schade, dass Beton nicht brennt.

Mein Leben, mein Ziel, mein Mittelpunkt: ich.

Manager glauben an ihre Sendung, Philosophen an ihren Kaufwert, Literaten an ihr Lieblingsthema: Nabelschau.

Gerechtigkeit? Steht mir zu.

Solidarität? Klar, erwarte ich von anderen.

Sozialschmarotzer? Sind die anderen.

Meine Karriere, mein Haus, mein Auto. Und mehr.

Nur eines gibt es, das der heutige Mensch noch höher stellt, noch inniger liebt als sich selbst: sein Haustier.



© Brigitte Hutt 2018



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