Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Schatz

Der Schatz

Meine Großmutter hatte ein Schatzkästlein. Es war klein, aus dunklem Holz, vom Alter sowohl glatt poliert als auch an den Ecken abgestoßen. Es stand auf dem Küchenbuffet, und immer, wenn ich bei meiner Großmutter war, lief ich zum Schatzkästlein und öffnete es, was ich nur unter ihren wachsamen Augen tun durfte.

Der Schatz bestand aus vielerlei Münzen aus vielerlei Ländern. Woher sie die nur alle hatte! Manchmal vergnügte ich mich damit, sie zu sortieren, an anderen Tagen fragte ich meine Großmutter, was die eine oder andere Münze bedeute. Sie wusste zu jeder eine Geschichte. Indische Nashörner erwachten zum Leben, irische Harfen musizierten für mich, Paläste ließen Könige an mir vorbeiziehen. Einige Münzen aus Frankreich und Polen waren dabei, deren Geschichten ich gar nicht mochte, denn sie handelten von Krieg und Soldaten, von Trauer und vom Tod. Von Tod wollte ich nichts hören.

Mit der Zeit verband sich jede Münze für mich mit einer Geschichte, und ich konnte auswählen, welche ich jeweils hören wollte. Großmutter erzählte sie alle immer wieder gern. Sie waren schöner als jedes Märchenbuch.

Eines Tages sagte meine Mutter, sie müsse aus Großmutters Wohnung ein paar Sachen holen, denn Großmutter sei im Krankenhaus. Ich erschrak sehr. Von Krankheit wollte ich nichts hören. Aber ich hatte meine Großmutter lieb, so nahm ich meinen Mut zusammen und begleitete Mutter. Während sie in Großmutters Schlafzimmer eine Tasche packte, stand ich vor dem Küchenbuffet und griff zögernd nach dem Schatzkästlein. Großmutter war nicht da, aber ich wollte ja nichts wegnehmen, nur einmal hineinschauen, mich an die Geschichten erinnern. So öffnete ich den Deckel und sah zuoberst eine goldene Münze liegen, die mir neu war. Es waren Ziffern darauf zu lesen und seltsame, mir unbekannte Schriftzeichen. Vorsichtig nahm ich sie in die Hand und entzifferte am Rand das Wort Israel. Als ich sie zurücklegen wollte, sah ich darunter noch eine weitere goldene Münze liegen, die der in meiner Hand glich, aber sie war zerkratzt und hässlich. Woher hatte Großmutter die, und warum bewahrte sie die hässliche auf?

Ich fuhr mit meiner Mutter ins Krankenhaus und betrat mit Herzklopfen Großmutters Zimmer. Sie sah sehr klein und zerbrechlich aus in ihrem Krankenbett, und ich bekam große Angst. Was sollte werden, wenn sie nicht mehr gesund wurde? Weiter wagte ich nicht einmal zu denken.

Aber Großmutter winkte mich an ihre Seite und fragte mich, wie es mir gehe und was ich so mache. Ihre Stimme klang fast wie immer, und ich beruhigte mich ein wenig. Aber in meinem Kopf sah ich das Kästchen und die neuen Münzen, und schließlich sprudelte ich heraus: "Großmutter, sag, woher hast du eigentlich die vielen Münzen aus den vielen verschiedenen Ländern? Bist du da überall gewesen?"

Großmutter lächelte und sah aus dem Fenster. Mutter war hinausgegangen, um mit der Krankenschwester zu sprechen, wir waren ganz allein. Atemlos wartete ich auf die Antwort. Schließlich sagte sie: "Alle Freunde und Verwandten haben mir von ihren Reisen ein paar mitgebracht. Ich selbst bin in wenigen Ländern gewesen, höchstens mal in Österreich oder Holland."

Sie schwieg, und ich überlegte. Dann fasste ich mir ein Herz und sagte: "Ich war vorhin in deiner Küche und hab das Kästchen aufgeklappt. Nur aufgeklappt! Ich wollte nur mal hineinsehen. Und da lag eine neue Münze. Oder zwei. Eine schöne und eine hässliche. Die kenne ich gar nicht!"

Sie schaute mich aufmerksam an. "Du hast die Schekel gefunden?"

Ich nickte und knetete verlegen meine Finger. Sie streckte eine Hand aus und streichelte meine. "Eines Tages gehört das Kästchen dir, aber bis dahin möchte ich, dass alles beieinander bleibt. Weißt du, manchmal schaue ich hinein und erzähle mir selbst die alten Geschichten. Und da darf keine fehlen, das ist mir wichtig."

"Und ... die Geschichte ... zu den ... wie hast du sie genannt?"

"Schekel. Das ist das Geld in Israel. Israel ist am Ostrand vom Mittelmeer. Wenn man nach Griechenland fährt wie du und deine Eltern und dann noch ein Stück weiter übers Meer, dann kommt man dahin. Und da war Sonja, mein Patenkind. In Israel ist sehr oft Krieg, das ist ein unruhiges Land. Da wohnen ganz unterschiedliche Menschen, die alle meinen, nur ihnen gehört das Land, und dann werfen sie mitunter lieber Bomben, anstatt es sich zu teilen. Das liegt daran, dass sie nicht nachgeben können. Kennst du das? Wenn man etwas behauptet, und dann kann man es nicht mehr zurücknehmen, weil man Angst hat, dann nicht mehr ernst genommen zu werden?"

Ich nickte und dachte an meine Schulkameraden. Großmutter erzählte leise weiter.

"Sonja ist dorthin gefahren, um zu arbeiten. Sie hat Menschen geholfen, die keine Arbeit finden und nicht zurechtkommen mit all der Unruhe im Land, nicht zurechtkommen mit den vielen Kontrollen auf den Straßen und all diesen Dingen." Großmutter seufzte tief. "Sonja hat mit vielen Menschen gesprochen, viele getröstet, für manche Hilfe finden können, manche einfach nur miteinander ins Gespräch gebracht. Weißt du, man darf nie aufhören, miteinander zu reden, nie!"

Ich dachte an den Streit mit meiner Schulfreundin und nagte an meiner Unterlippe.

Großmutter fuhr fort, noch leiser: "Und dann war da wieder einmal eine Bombe, oder eine Mine, ich weiß es nicht. Etwas explodierte, mitten auf der Straße. Es hat Sonja erwischt. Man hat die Sachen, die sie bei sich hatte, zu ihrer Familie geschickt, und neulich kam ihre Schwester zu Besuch und hat mir die Münzen geschenkt. Die hatte Sonja in ihrer Tasche. Die eine ist heil geblieben, die andere ..."

Großmutters Stimme hatte zu zittern begonnen, und ich legte meine Wange an ihre, um zu verbergen, dass mir die Tränen kamen.

"Das ist eine traurige Geschichte", flüsterte ich schließlich, und auch meine Stimme zitterte.

"Ja", sagte Großmutter wieder fester, "aber es ist eine wahre Geschichte. Und eine, die ich nicht vergessen will. Und du sollst sie auch nicht vergessen, du sollst alle die traurigen Geschichten nicht vergessen, gerade die, hörst du? Alle die Geschichten, die von Krieg und Kummer erzählen, sind wahr, und sie passieren immer wieder. Und wenn man sie vergisst, passieren sie trotzdem immer wieder."

"Aber was kann man denn dagegen tun?", rief ich beinahe trotzig.

"Nie aufhören, miteinander zu reden, und nie denken, die anderen haben immer Unrecht. Jeder hat mal Recht, und jeder hat mal Unrecht. Und die wichtigste Aufgabe im Leben ist es, dem anderen sein Recht zu lassen. Verstehst du das?"

Ich nickte zögernd.

"Dann geh und tu das. Tu es für mich. Und für Sonja. Und für alle Menschen."

Inzwischen war Mutter wieder hereingekommen und stand hinter mir. Jetzt legte sie mir eine Hand auf die Schulter, streichelte mit der anderen Großmutters Hand, die jetzt zitterte, und sagte zu ihr: "Vielleicht solltest du dich jetzt etwas ausruhen. Wir kommen wieder, ja?"

"Ja?", wiederholte Großmutter und sah dabei mich an. Ich nickte erneut.



© Brigitte Hutt Mai 2019

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