Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Zelt im Fenster

Utopie Zeltlager

Der Lehrerstammtisch war selten zuvor so gut besucht. Alle nicht beamteten Kollegen kamen in heller Aufregung und sehr empört über die neuesten Maßnahmen der öffentlichen Hand. Gleich nach der ersten Getränkerunde ging es los.

"Nicht genug, dass wir mit Einjahresverträgen leben müssen und jeden August arbeitslos sind, jetzt müssen wir auch noch diesen Ein-Euro-Job akzeptieren, damit wir im August nicht völlig ohne Einkommen sind", ereiferte sich Mosinger und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas.

"Zeltlager betreuen! Was für ein ...", schimpfte Petersen.

"Dafür habe ich nun Chemie studiert! Das sollen sie gefälligst die SozPäds machen lassen! Die können das besser. Und da gibt es genug Arbeitslose." Dr. Leitner, sonst so gelassen, war äußerst ungehalten.

"Na, na, nicht die Kollegen von der Sozialpädagogik herabsetzen. Die machen einen guten Job." Dr. Abeles Frau war Sozialpädagogin.

"Ist ja gut, weiß ich ja", entschuldigte sich Dr. Leitner, "aber - das Ganze ist doch für nichts gut!"

"Sehe ich anders", meinte Gruber, die Kunsterzieherin, Mutter von drei Kindern. "Sehen Sie, es gibt doch viel zu wenig Ferienbetreuung für Kinder, und die Eltern müssen nun einmal mit den Urlaubstagen auskommen, die ihnen tariflich zustehen. Wenn nun die Bundesagentur die Städte dazu bekommen hat, die Zelte und den Platz zu stellen, und uns als pädagogische Fachkräfte ..."

"... für einen Hungerlohn!", warf Petersen ein, "und ohne uns zu fragen!".

"... dann ist das für die Kinder doch eine Chance", fuhr Gruber ungerührt fort. "Nein, für die ganzen Familien."

"Na, dann viel Spaß", knurrte Petersen und winkte dem Ober mit dem leeren Bierglas.

Mosinger beugte sich über den Tisch und fragte: "Und wann haben dann wir Urlaub?"

"Ostern, Pfingsten, Weihnachten", überlegte Gruber, "man muss dann eben regeln, dass wir da keine Korrekturen, Vorbereitungen und dergleichen durchzuführen haben."

"Und wer regelt das?", fragte Petersen.

Dr. Abele schlug auf die Tischplatte und strahlte. Alle schauten ihn verblüfft an.

"Wir machen ein Projekt daraus!" rief er. Die anderen schauten ihn an, als ob er endgültig den Verstand verloren hätte. Dr. Abele, der verhinderte Schriftsteller, der den Lehrerjob angenommen hatte, damit seine Familie ein beständiges Einkommen hatte. Na ja, außer im August.

"Abenteuerurlaub", fuhr Dr. Abele versonnen fort, "das mögen die Kinder doch. Als erstes kann Frau Gruber die Zelte mit ihnen gestalten. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wir nehmen zum Beispiel die übriggebliebenen Arbeitsblätter des letzten Schuljahres, die Erlasse des Ministeriums mit dem hübschen Logo, ein paar Scheren, Klebstoff - was Ihnen so einfällt, Frau Gruber. Und dann ... mal sehen. Ja, wir entwerfen Kettenbriefe. An sämtliche Mitarbeiter der Bundesagentur der Arbeit, zumindest an die für uns zuständigen. Und an die Politiker. Keine Arbeit in den kleinen Ferien. Mir fällt schon was ein, womit wir ihnen drohen können. Das mache ich doch gern. Und Sie, Herr Petersen, übertragen das mit den Kindern dann auf Englisch, für die EU-Politiker. So richtig schön international. Das macht Eindruck. Und ..."

Dr. Leitner schnipste mit den Fingern. "Und wir nehmen ein paar Kerzen mit. Da gibt es doch das schöne Experiment, Pfeffer in eine Flamme zu streuen. Puff, Stichflamme!"

Entsetzte Gesichter: "Aber ... damit bringen wir doch die Kinder in Gefahr!" Dr. Leitner winkte ab. "Wir machen es draußen. Und wenn sie es kapiert haben, dann - im Papier-geschmückten Zelt."

"Ja!" Jetzt hatte auch Sportlehrer Mosinger Gefallen daran gefunden. "Und dann joggen wir zum Bach, um Löschwasser zu holen. Eimerkette wie im Mittelalter!"

"Den Urlaub vergessen sie so schnell nicht", meinte Petersen.

"Und die Bundesagentur auch nicht", schloss Dr. Abele vergnügt.

© Brigitte Hutt Schulanfang 2018

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