1700 Jahre Juden in Deutschland - mein Resümee
Es ist schrecklich, dass wir diese 1700 Jahre überhaupt feiern müssen. Denn das bedeutet, dass es noch immer etwas Besonderes ist, dass in unserem Land Jüdinnen und Juden leben, dass es eine Integration von Jüdinnen und Juden nie gegeben hat und in absehbarer Zeit auch nicht geben wird. Alles, was im Rahmen dieser Feiern gesagt und getan wird, ist ein verzweifelter Appell an die Vernunft und Menschlichkeit in unserem Land, und zugleich ein entsetzter Aufschrei darüber, dass der Antisemitismus nicht nur nicht vorbei ist, sondern derzeit immer unübersehbarer wird, mehr noch: immer selbstverständlicher, im Gegensatz zur Akzeptanz aller sich zum Judentum oder zu jüdischer Herkunft bekennender Menschen hier.
Nein, ich will diese 1700 Jahre nicht feiern. Ich will feiern, dass es Menschen mit Vernunft und Gelassenheit gibt, für die ein jedes Gegenüber nach seinen oder ihren Qualitäten beurteilt und auf Augenhöhe wahrgenommen wird, ohne Einbeziehung von Hautfarbe, Herkunft oder Bekenntnissen. Warum sollten solche Dinge auch wichtig sein? Sie können hilfreich oder störend sein, aber nicht wichtig. Mein ewiges Stirnrunzeln und Lippenzusammenpressen, meine sehr spezielle Art von Humor (oder Humorlosigkeit) passen auch nicht jedem, aber ich will, wenn ich kritisiert werde, lieber wegen dieser Dinge kritisiert werden als dafür, dass ich weiblich, heterosexuell und katholisch bin und aus Nordrhein-Westfalen komme.
Nein, ich will diese 1700 Jahre nicht feiern. Ich muss mit Mitmenschen auskommen, die so ganz nebenher sagen: "Mit Juden hab ich es nicht so", dermaßen nebenher, dass mir die Luft wegbleibt und ich gar nicht schnell genug darauf eingehen kann, bevor das Thema des Gesprächs sich schon ganz anderen Dingen zugewandt hat. Ich muss mit diesen Menschen auskommen, denn, ganz ehrlich, wenn ich alle Kontakte abbreche, die sich gelegentlich antisemitisch oder antimuslimisch oder anti-was-weiß-ich anhören - dann werde ich sehr bald sehr einsam sein (und auch nichts bewirken). Denn diese Antis sind (wieder?) Teil des guten Tons, gerade unter Leuten, die sich auf einem gewissen Bildungsniveau fühlen. In stillen Stunden versuche ich zu reflektieren, welche Antis denn ich selbst benutze, ohne es zu merken.
Nein, ich will diese 1700 Jahre nicht feiern. Ich will nicht feiern, solange es den Begriff "Judenfrage" noch gibt, und es gibt ihn! Jüngst gelesen, in einem ansonsten guten Dossier. Was, bitteschön, ist denn "die Judenfrage"? Ich kann mir vorstellen, viele Fragen an Jüdinnen und Juden zu haben, vermutlich an jede und jeden eine andere, aber wem stelle ich denn "die Judenfrage"? Gibt es denn auch eine Katholikenfrage? Und was ist im einen wie im anderen Fall die Antwort? Heißt es (immer noch), "die Juden", also ihre Existenz, in Frage zu stellen? Endlösung für Juden, Endlösung für Katholiken, Endlösung für Antisemiten (ach du Schreck, das wünsche ich mir, klammheimlich ...)? Endlösung für Neger? Denn: Wer heute noch das Wort Judenfrage benutzt, sagt sicher auch Neger.
Als ich im Jahr 2017 öffentlich gesagt habe, ich wolle das Reformationsjubiläum (ja, Jubiläum!) feiern, denn für mich sei die Existenz der Vielfalt wichtig, bin ich zurecht gewiesen worden. Da gäbe es nichts zu feiern, zu viel Negatives habe das in Folge gehabt. Also weise ich euch, die ihr diese 1700 Jahre feiern wollt, zurecht: 1700 Jahre, deren Anfang nur durch ein Datum auf einem eher nebensächlichen Dokument ausgedrückt wird, keinesfalls der Anfang jüdischen Lebens in Deutschland ist, in einem Land, das es damals übrigens noch gar nicht gab, 1700 Jahre, an denen wir uns festhalten, wir deutsche Nichtjuden (und Nichtjüdinnen), weil wir unsere Gastfreundschaft darin spiegeln möchten, anstatt dieses ganze Jahr darüber nachzudenken (wie weiland 2017 das Reformationsgedenken), wie wir denn mit Gästen aus fremden Ländern umzugehen pflegen, wie wir oft genug mit Juden (und Jüdinnen) umgegangen sind, wie wir heute mit Zugereisten und Geflüchteten umgehen, seht ihr da wirklich einen Grund zu feiern?
Ja, ich habe die 1700 Jahre auch gefeiert, habe an einigen Veranstaltungen teilgenommen, und ich habe dabei wirklich Gutes und Schönes erlebt. Verzweiflung gefühlt, aber auch Hoffnung gefasst. Und ich kann nur hoffen, liebe jüdische Mitdeutsche, dass auch ihr Hoffnungszeichen seht - trotz Halle 2019 und immer neuen Hakenkreuzschmierereien. Dem Ziel ein wenig nähergekommen sind wir aber erst, wenn wir unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gar nicht mehr als "jüdisch" wahrnehmen, sondern nur als Mitbürger*innen und - als Individuen. "Die" Juden (und Jüdinnen) gibt es nicht. Das ist meine Antwort auf die "Judenfrage".
© Brigitte Hutt Ende 2021
Zum Bild "Tal der Gemeinden, Yad Vashem, Israel": Das Tal ist ein massives, 2.5 Morgen großes Denkmal, das buchstäblich aus dem natürlichen Felsboden ausgehoben wurde.
Auf 107 Wänden sind die Namen von über 5.000 jüdischen Gemeinden, die im Holocaust zerstört wurden oder nur knapp überlebten, eingraviert.
www.yadvashem.org, eigenes Foto