Fünf Phasen des Sterbens
Nach Elisabeth Kübler-Ross gibt es die folgenden Reaktionen auf ein unabwendbares Sterben:
1. Phase: Nicht-Wahrhaben-Wollen
2. Phase: Zorn
3. Phase: Verhandeln
4. Phase: Depressionen
5. Phase: Zustimmung
In der derzeitigen Pandemie-geprägten Gesellschaftssituation stirbt etwas - und ich rede jetzt nicht von Millionen Covid-Toten. Es stirbt die Gesellschaft, wie wir sie kennen, die - fragilen - Regeln, nach denen sie - mehr oder weniger - seit langem funktioniert. Im Grunde gar nicht einmal so lange: Die Gesellschaft, die die gegenwärtig Lebenden kennen, musste sich ja erst nach 1945 aus den Trümmern zweier Kriege, überholter Herrschaftsformen, ersten Versuchen zu Demokratie und Republik neu schaffen - und das hat sie hingekriegt, sonst gäbe es uns nicht, sonst gäbe es auch so hoffnungsvolle Versuche wie die Europäische Union nicht.
Die EU hat 2012 den Friedensnobelpreis erhalten - war das ein (letzter) Appell an ihre eigentliche Bestimmung? Seitdem jedenfalls bröckelt sie und sollte sich und ihre (oder eine neue) Identität schleunigst zu finden suchen. Flüchtlingskrise, Brexit, aber auch schon Osterweiterung rütteln am Konzept, am Selbstverständnis, am Funktionieren der EU. Dass die Binnengrenzen dann ausgerechnet wegen eines Virus' quasi wieder geschlossen wurden, ist Ironie per se: Was kümmert ein Virus Staatsgrenzen!
Und schon sind wir in Phase 1: was wir derzeit alles nicht wahrhaben wollen.
Ohne Priorisierung, ohne Vollständigkeit aufgezählt:
Irgendwo zwischen Phase 1 und Phase 2 sehe ich die so genannten Querdenker. Sie wollen nicht wahrhaben, was nicht mehr zu leugnen ist, und sie reagieren mit Zorn - der aber natürlich nichts nützt. Sie meinen, sie gehen ihren eigenen Weg, sehen aber weder, dass sie nur neuen Führern nachlaufen, noch, dass sie diesen Weg auf Kosten vieler anderer gehen.
Was können wir tun - müssen wir das Unvermeidliche akzeptieren, müssen wir den Weg bis zu Phase 5 gehen und unsere Gesellschaft sterben sehen? Oder finden wir, in ähnlich atemberaubender Geschwindigkeit wie mRNA-Impfstoffe, ein "Medikament", ein Mittel, das uns wieder zusammenfinden lässt?
Ein Grundproblem jeder heutigen Gesellschaft ist es, dass es im Grunde keine Gemeinsamkeit zwischen den Millionen Menschen gibt, die da qua Staatsbildung oder qua Gesetz zusammengehören sollen. Da war es früher mit Leitfiguren wie Königen ein wenig einfacher, aber das kann man nicht zurückholen, es passt einfach nicht mehr. Doch der Gedanke ist noch immer präsent: Nicht Parteien oder Parteiprogramme werden gewählt, sondern Köpfe. Ein "Problem" an Annalena Baerbock ist es, dass sie zu wenig Ähnlichkeit mit einer Führungspersönlichkeit hat. Da hat ein Macher wie Friedrich Merz sicher noch immer die besseren Karten. Ist es programmatisch, gibt es gar zu Hoffnungen Anlass, dass nicht er es ist, der uns in den nächsten Jahren regieren wird?
Aber die Suche nach Leitfiguren ist in sich auch fragil, denn nie identifizieren sich alle in einer Gesellschaft Lebenden mit derselben Person - und das ist auch gut so.
Was in jedem Fall zusammenschweißt (um einen Begriff zu benutzen, der höchst überladen ist und den ich gar nicht mag), ist das Gegenteil: ein gemeinsames Feindbild. Das war in all den Kriegen immer klar der oder die Gegner, denen man dann auch gern als Menschen negative Eigenschaften zuschrieb, denn sonst wären es ja die unsrigen und nicht die Feinde. Welche Überraschung, jedes Mal, dass die einzelnen Mitglieder der feindlichen Gesellschaften gar nicht so anders sind als wir selbst.
Feindbild heute ist gern der Islam - unsere Gesellschaft ist nicht mehr religiös, aber genau das befördert ja das Feindgefühl gegenüber denen, die es sind, und die das auch noch zur Unmenschlichkeit zu pervertieren scheinen. Unnötig zu sagen, dass es Millionen mehr Muslime gibt als Islamisten. Und: Welche Überraschung, dass die einzelnen muslimischen Menschen gar nicht so anders sind als wir selbst.
Und nun ist da dieser quasi unsichtbare Feind: ein Virus, das wir nicht selbst wahrnehmen, nur seine Auswirkungen, das wir nicht mit klassischen Waffen bekämpfen können, das mitten unter uns ist, das uns zornig (Phase 2) und hilflos (Phase 4) macht. Mit dem wir nicht einmal verhandeln können (Phase 3). Dem wir gern alles Böse zuschreiben können, aber es nützt uns nichts.
Doch wechseln wir einmal die Perspektive: Unsere Gesellschaft ist geprägt von Konkurrenzdenken, Kapitalismus, Konsum, hat Begriffe wie sozial und solidarisch sinnentleert - können wir dann nicht vielleicht Phase 5 neu deuten? Zum Beispiel so: die Existenz dieser Alltagsbedrohung "Virus" annehmen, die alte, so oft rücksichtslose Gesellschaft sterben lassen und eine neue angehen? Zumindest mal anfangen, sie zu definieren?
Oder schaffen wir das nur, wenn zuerst eine Katastrophe alles zunichte gemacht hat?
© Brigitte Hutt Oktober 2021