Anneliese
Christoph unternahm seinen täglichen Spaziergang - und fühlte sich alt. Gestrig. Vorgestrig.
Seine kleine Lena - was für ein süßes Kind sie gewesen war - hatte ihr zweites bekommen, wieder ein Junge. Alle freuten sich, Lena, Marco, dessen Eltern, und er, Christoph, hatte natürlich in diesen Freudenchor eingestimmt. Ohne Freude zu fühlen.
Bettina war seit zehn Jahren tot, und Almut, mit der er seit vier Jahren zusammen gelebt hatte, war gegangen. Christoph war ihr zu kühl, zu vernunftgesteuert, sie fühlte keine Verbindung zwischen ihnen beiden, so hatte sie es, wenn auch zögernd, stockend und unsicher, erklärt. Was konnte er mehr tun, als es zu akzeptieren?
Was blieb außer der täglichen Routine? Der Disziplin, die er sich auferlegt hatte, um fit zu bleiben? Gesundes Essen, tägliche Bewegung, regelmäßiges Zeitunglesen, die eine oder andere Studienreise, all das gehörte dazu. Körperlich und geistig fit bleiben. Das war sein Leben jetzt, und dass es trotz alledem leer war, mochte er sich nicht eingestehen.
Er bog um eine Straßenecke - er bevorzugte, durch bewohnte Viertel zu laufen - und sah wieder einmal viele Kisten und Schachteln vor den Häusern stehen. "Zu verschenken" stand auf den meisten. Kurz ärgerte er sich über den Anblick, die Unordnung, aber dann kam ihm der Gedanke, dass diese Leute vielleicht nur Kapitel ihres Lebens entsorgten, die sie abgeschlossen hatten. Wäre das auch etwas für ihn? Das Kapitel Bettina abschließen? Nein. Sie war Lenas Mutter, das war ein sehr lebendiges Kapitel. Almut abschließen? Vielleicht. Vielleicht demnächst.
Er ging langsamer, musterte das Angebot am Straßenrand. Schuhe. Bügeleisen. Plastikgeschirr. Na ja, wer es denn brauchte. Vielleicht gab es ja Menschen, die das brauchten. Vor Bücherkisten blieb er stehen. Bettina hatte ohne Bücher nicht leben können, und was alles für sie lesenswert war, hatte er nie verstanden. Sie hätte diese Verschenke-Welle genossen. Alle ihre Bücher lagen nun in Kisten verstaut in der Garage.
Er schaute flüchtig in die eine oder andere Kiste. Krimis. Reiseführer. Kinderbücher. Klar, Krimis las man nur einmal, Reisen waren irgendwann vorüber, Kinder wurden erwachsen. Lena fiel ihm ein, die den Büchertick ihrer Mutter durchaus geerbt hatte. Lena hatte nun Jakob und, ganz neu, Jannick. Ob Lena ihre Kinderbücher aufbewahrt hatte? Oder waren Mädchenbücher nicht das Richtige für Jungen? Christoph musste zugeben, dass er nicht wusste, was Lena als Kind und Jugendliche gelesen hatte.
Auf einmal merkte er, dass er schon eine ganze Weile vor einer Kiste stand, deren vorderstes Buch, dem Titelbild nach, ein Kinderbuch war. "Konrad" hieß es. Der Name gefiel ihm weitaus besser als Lenas J-Namen.
Christoph schaute sich verstohlen um, bückte sich, griff nach dem Buch und ging mit raschem Schritt davon.
Daheim angekommen, machte er sich einen Tee - auch das eines seiner Rituale - und setzte sich in seinen gewohnten Sessel. Vor ihm auf dem niedrigen Tisch lag es nun: Konrad. Christoph schüttelte über sich selbst den Kopf: Er hatte sich ein Buch besorgt, noch dazu ein Kinderbuch, noch dazu aus einer Verschenkekiste. Welcher Teufel hatte ihn geritten? War das nun ein gutes Buch, nur ausrangiert, weil der oder die Leser darüber hinausgewachsen waren, oder war es Ramsch, "Trash", wie Lena sagen würde? Wenn er es ihr brachte - Jakob war fast drei, durchaus im Vorlesealter - würde er einen dieser mitleidigen Blicke erhalten, die er so hasste?
Es gab nur eine Lösung: Er musste das Buch zuerst einmal selbst lesen und sich ein Bild machen.
Christoph, der Zeitungsleser, fand sich nur mühsam hinein. Eine seltsame Mischung von Realitätsnähe, Skurrilität, Eigenbrötlertum - was er widerwillig anerkennen musste - und gewissen Märchenelementen. Ein Genre, das ihm fremd war, immer schon. Als Kind hatte er geweint, hieß es, wenn ihm Grimms oder Andersens Märchen vorgelesen wurden. Nur dass dies das Buch einer Autorin des 20. Jahrhunderts war, die darin ein Kind in einer Kiste per Post zustellen ließ. Konnte das jemand ernst nehmen? Aber irgendwann packte ihn die Geschichte doch. So vieles darin war auch sein Leben: die Streitereien mit Bettina oder Almut über Gewohnheiten, über die Meinungen "der Leute", die Versuche, Lena in die Schule und in die oft so gnadenlosen Klassengemeinschaften zu integrieren ... es ließ ihn nicht los, und die skurrilen Märchenelemente passten von Seite zu Seite immer besser in die Geschichte.
Die Szenen in der Schulklasse fesselten ihn am meisten. Mobbing nannte man das heutzutage. Dass die Lehrerin das nicht nur hinnahm, sondern sogar ausnutzte - war das nicht immer schon so gewesen? Ein Streber war dieser Konrad für die anderen Kinder, ein Streber war auch Christoph für seine Mitschüler gewesen: zu brav, zu gute Noten.
Im aktuellen Kapitel versuchte die Klasse, Konrad eins auszuwischen. Christoph las und blätterte um. Nanu? Ein Name im nächsten Absatz war mit Kugelschreiber fett, beinahe wild, übermalt worden und ein anderer Name darüber gekritzelt: Ute. Zwei Absätze später das gleiche. Beinahe war das Papier an diesen Stellen durchgedrückt. Ein Leser - oder eine Leserin? - musste sehr wütend auf eine Ute gewesen sein, so dass nun sie Urheberin des Streichs gegen Konrad war. Ute. Wer wohl die reale Ute war? Jemand aus dem Umfeld der Autorin womöglich? Ach, Unfug, es war ja hineingekritzelt, es musste aus dem Leserkreis kommen. Wem hatte das Buch wohl zuvor gehört? Christoph klappte es zu und überlegte, versuchte sich zu erinnern, vor welchem Haus er es gefunden hatte. Es gelang ihm nicht, obwohl er bis zum Schlafengehen immer wieder darüber grübelte. Mehr noch: In der Nacht träumte er von einer langen Straße mit unendlich vielen Bücherkisten, und auf allen Titelblättern stand groß und fett und in Kugelschreiberblau "Ute".
Am nächsten Morgen fühlte Christoph sich gerädert. Elender Konrad, dumme Ute, dachte er. Aber auch das half nichts, er grübelte weiter. So packte er zu guter Letzt das Buch in seine Aktentasche und versuchte, den gestrigen Spazierweg zu rekonstruieren. Da er sich stets "von seinen Füßen führen" ließ, wie er es nannte, war das gar nicht so leicht. Nach einigem Herumlaufen meinte er, die Straße wiederzuerkennen. Dummerweise hatte es inzwischen angefangen zu nieseln, und weit und breit stand keine Kiste vor der Tür. Nur ein paar Plastikspielsachen konnte er ausmachen, aber an die erinnerte er sich von gestern nicht. War es hier gewesen?
Er spannte seinen Regenschirm auf und blickte sich um. Ruhige Wohngegend, an der Ecke ein Zeitungskiosk, weiter hinten ein größeres Gebäude, möglicherweise eine Schule. Wenige Passanten, hin und wieder ein Auto. Ja, hier könnte es gewesen sein. Er musterte die Häuser. Da fiel ihm am übernächsten Gebäude ein buntes Schild im Fenster auf: Kindergarten "Die Buntstifte". Natürlich, die mussten sicherlich hin und wieder Bücher aussortieren. Christoph ging zur Tür und hatte die Klingel gedrückt, bevor er richtig nachgedacht hatte, und er erschrak über sich selbst. Die hatten doch zu tun da drin, die warteten sicher nicht auf einen alten Mann! Da hörte er schon Schritte, die Tür öffnete sich, und eine junge Frau mit zerzaustem Haar schaute ihn fragend an. Christoph fingerte umständlich das Buch aus seiner Tasche und fragte: "Entschuldigung, haben Sie das gestern in die Verschenkekiste gelegt?"
Oh je, war das verständlich gewesen? Das hatte sich ja fast wie ein Vorwurf angehört. Die junge Frau runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. "Das ist doch kein Buch für Vorschulkinder. Warum wollen Sie das denn wissen?"
"Ach, ähm", Christoph wand sich, "ich hätte da nur eine Frage. Wissen Sie ..."
Aus dem Hintergrund drang Kindergeschrei. Die Frau an der Tür sagte eilig: "Fragen Sie lieber im Hort. Dahinten, bei der Schule!" Dann schloss sie die Tür.
War er gestern an der Schule vorbeigekommen? Christoph konnte sich nicht erinnern. Aber er ging in die Richtung, und es zeigte sich, dass an einem der Häuser noch vor der Schule ein Schild mit der Aufschrift "Private Mittagsbetreuung und Hort, A. Kessler" stand. Unschlüssig blickte Christoph auf das Schild. Sollte er auch hier klingeln? Er störte eigentlich nicht gern. Und es war ja auch noch gar nicht Mittag, vielleicht war niemand im Haus.
"Suchen Sie jemanden?", erklang eine freundliche Stimme hinter ihm. Christoph schrak zusammen und drehte sich um, das Buch, auf dem jetzt Regentropfen glitzerten, noch in der Hand. Er stand vor einer Frau mittleren Alters, die ihn anlachte.
"Ach, haben Sie unseren Konrad mitgenommen?"
Spontan fragte Christoph zurück: "Wer ist Ute?"
Die Frau war sichtlich verwirrt. "Wie bitte?"
"Wer ist Ute? Jemand hat ‚Ute' in dieses Buch gekritzelt, mitten in den Text."
"Oh je, das wusste ich gar nicht. Und Sie wollen es sicher verschenken? Das tut mir leid."
"Nein, ist nicht schlimm. Aber wer ist Ute?"
"Ach, mal überlegen, nein, eine Ute haben wir nicht, wenigstens nicht in diesem Schuljahr. Nein, da kann ich Ihnen nicht helfen."
"Darf ... ich fragen, warum Sie dieses Buch ausgemustert haben?"
Die Frau lachte ein wenig kläglich, strich über den Einband und sagte: "Kommen Sie mal mit."
Dann schloss sie die Tür des Horts auf und machte eine einladende Geste. Er betrat einen schmalen Flur, stellte sorgfältig seinen Schirm in einen Ständer und folgte seiner Gastgeberin in einen großen, hellen Raum mit Tischen, Stühlen, Kisten und Regalen. Die Möbel verkratzt und bemalt, die Kisten voller Spielzeug, die Regale rappelvoll mit ... Büchern.
"Sehen Sie? Alles eine Platzfrage. Wir erhalten immer mal Bücherspenden, und dann muss etwas weichen. Und die jetzige Generation an Kindern ... na ja, sie lieben keine realistischen Geschichten, jedenfalls die Mehrheit von ihnen. Da muss es von Monstern wimmeln, günstigenfalls von Elfen oder auch von Sauriern. Dinos. Also haben wir Konrad aussortiert."
"Das Buch zu realistisch? Ein Kind im Postpaket?"
"Das nicht gerade, aber die Geschichte selbst - so geht es doch zu in der Schule, und so geht es zu in den Familien: Streit und Mobbing. Da wollen die Kinder beim Lesen in eine andere Welt abtauchen. Je unwirklicher, desto lieber."
Christoph nickte nachdenklich. "Ute muss eine von den Schlimmen sein, eine, die mobbt."
"Das tun immer mal welche, leider. Aber das geschieht eher drüben in der Schule, da herrscht mehr Anonymität, da können diese Utes gut in der Menge der Schülerinnen und Schüler untertauchen. Hier bei uns sind weniger Kinder und, ja, eine bessere Betreuung."
Sie schaute sich in dem Raum um, der trotz der Abnutzungsspuren freundlich wirkte, und lächelte versonnen. "Ich denke, ich komme ganz gut zurecht mit meinen Rabauken."
Wie liebevoll sich das anhörte. Christoph hatte bisher die Vorstellung gehabt, ein Hort sei mehr eine Art Abstellplatz für Kinder, die mittags nicht nach Hause gehen können. Aber bei dieser Frau ...
"Kann ich die Stelle mal sehen? Also, wo ‚Ute' steht?", unterbrach sie seine Gedanken.
Christoph stellte seine Tasche ab und blätterte. "Hier, sehen Sie? Und hier! Richtig wütend ausgestrichen. Man kann den Originalnamen gar nicht mehr entziffern."
Sie nahm das Buch und las den Absatz. Eine Schülerin hatte etwas zerbrochen, und Konrad sollte sie melden, was er, brav, wie er war, auch tat. Verpetzen. Die Ute. Oder - zweimal war der Originalname ausgestrichen, aber er tauchte noch ein drittes Mal auf. Die Frau wies auf die Stelle.
"Anneliese! Das Mädchen im Buch heißt Anneliese. Wie ich!"
Christoph und die Frau namens Anneliese schauten sich eine Weile schweigend an. Dann sagte sie leise: "Ich glaube, das könnte ... das war vermutlich der Lukas. Wissen Sie, der Lukas hat ein sehr schwieriges Elternhaus, er ist ein ... Eigenbrötler, und er hat nicht nur so ziemlich alles hier gelesen oder zumindest darin geblättert, er hat sich auch sehr an mich gehängt. Hilft mir in der Küche, strahlt mich an, freut sich, wenn ich ihm übers Haar streiche. Er scheint mich fast ein bisschen ... zu verehren, so pathetisch das auch klingt."
Sie schwieg wieder, kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe.
"Und dieser Lukas hat es nicht ertragen, dass seine Anneliese so schlecht wegkommt im Buch, meinen Sie das?"
Sie nickte.
"Und Ute?"
Anneliese hob die Schultern. "Keine Ahnung. Vielleicht kennt er eine Ute, oder vielleicht hat er den Namen nur genommen, weil er kurz ist und über dem Durchgestrichenen gerade noch Platz hat."
Wieder schwiegen sie, schauten in das Buch. Dann sagte Christoph, und seine Stimme klang belegt: "Ich bin sicher, bei Ihnen hat er es gut, haben alle es gut."
Sie schaute ihn überrascht an.
Tief in Gedanken versunken, sagte er langsam: "Wissen Sie, ich glaube, Bücher sind nicht die schlechteste Idee. Ich habe ganze Kisten davon, von meiner verstorbenen Frau, ich muss da mal stöbern. Aber zuerst werde ich ‚Konrad' zu Ende lesen."
Anneliese lächelte.
Er schlug die erste Seite des Buches auf und bat: "Schreiben Sie mir eine Widmung hinein? Ich ... heiße Christoph."
© Brigitte Hutt 2024
Zu Ehren von Christine Nöstlinger, die am 13.10.2024 ihren 88. Geburtstag gefeiert hätte,
und die den "Konrad" erdacht hat.