Antisemitismus 2023
Ruth Winkelmann, geboren 1928 in der Nähe von Berlin, ist Jüdin. Sie erlebte die Reichspogromnacht beinahe hautnah, überlebte den Krieg in einem Versteck, während ihr Vater in Auschwitz ermordet wurde, macht auch heute mit 95 Jahren noch Zeitzeugenarbeit. Gefragt, wie sie das Wiederaufkommen des Antisemitismus erlebt und empfindet, sagt sie spontan und sehr deutlich:
"Der war doch nie weg."
Was in Kürze "weg" sein wird, sind diese letzten Zeitzeugen einer Epoche, die voller Grauen war. Was dann auch weg sein wird, ist das lebendig Erhalten der Erinnerung. Daran werden auch Schulausflüge in Konzentrationslager-Gedenkstätten nichts ändern können, denn die Sprachlosigkeit der Nachgeborenen überträgt sich auf jede neue Generation.
Und was passiert dann, wer werden wir und unsere Nachgeborenen dann sein?
Nach dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris 2015 war das Solidaritätsbekenntnis "Je suis Charlie" in aller Munde. Ich wünsche mir, auf jede deutlich oder auch nur angedeutet antisemitische Äußerung antworten zu können: "Je suis Juive", oder eben: "Ich bin Jüdin." Und ich wünsche mir, dass wir das auf Transparente schreiben und damit an Orten antisemitischer Anschläge stehen. Wenn wir das konsequent tun, kann uns auch niemand übel nehmen, wenn wir die Aktivitäten einzelner israelischer Politiker kritisieren. Wir sind dann ja Jüdinnen und Juden - zumindest im Geiste.
© Brigitte Hutt November 2023