Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Schild im Wald

Aufbruch ins Ungewisse

"Sind alle dabei? Habt ihr was von John gehört?"

"Da kam grad noch eine Voicemail. Er kommt zum Treffpunkt."

"Also los! Natur, wir kommen!"

Fünf Kolleginnen und Kollegen warteten aufgeregt am Bahnhof, warteten auf John und den richtigen Zug.

"Da kommt er! Da! Juhu!"

John rannte den Bahnsteig entlang auf sie zu und schlug allen lachend auf die Schulter.

"He, Leute, prima, dass es klappt. Ich war schon ewig nicht mehr draußen im Wald. Kennt sich denn jemand aus?"

"Hab' den Routenfinder vorbereitet, keine Sorge." Isa hielt ihm ihr Smartphone hin.

"Seid doch mal still! Mann, da kam gerade eine Durchsage, und nun haben wir sie verpasst."

Sie sahen einander erschrocken an.

"Gibt's hier einen Info-Stand? Oder einen - wie hieß das früher, wo man die Karten kaufte?"

"Schalter." Jochen, der Dienstälteste, glänzte gern mit seinem Wissen "von früher".

"Da - trägt der Typ da nicht Uniform? Den frag' ich mal."

Judith ging zu dem Mann hin, sprach ihn an, er runzelte die Stirn, sagte etwas, wies auf ein Plakat an der Wand. Judith bedankte sich und kam zurück.

"Also. Er ist nicht von der Bahn. Er ist Polizist. Er sagt, die haben bloß durchgesagt, dass der Zug jetzt … da! Da kommt er schon!"

Sie stürmten einen der Wagen und suchten sich Plätze.

"Uff. Erster Akt geschafft."

Alle lachten, und Isa teilte Kekse aus.

"Ziemlich leer hier drin!"

"Gut für uns. Wasser gefällig? Hab' extra ein paar kleine Flaschen gekauft."

"Jochen, du sorgst für uns wie ein Vater!"

Sie lachten, tranken, aßen und achteten nicht auf die wenigen anderen Fahrgäste.

"Guten Morgen, bitte die Fahrscheine."

Sie hatten den Kontrolleur gar nicht kommen hören. Isa zog wieder ihr Smartphone hervor, wischte ein wenig und zeigte dem Kontrolleur stolz das Sammelticket. Der prüfte es und schüttelte den Kopf.

"Ich kann Ihnen das scannen, aber - das ist kein Ticket für die erste Klasse. Und genau da sitzen Sie gerade."

"Oh!" Isa machte große Augen. "Können Sie da nicht mal fünfe grade sein lassen, Officer?"

"Darf ich leider nicht. Aber schauen Sie, dort, der nächste Wagen, der gehört zur zweiten Klasse. Und Plätze gibt es da auch noch genug."

Isa knurrte etwas, aber Jochen bedankte sich höflich. Dann zogen sie um. Im nächsten Wagen waren nirgends sechs Plätze direkt beieinander frei, und sie schauten etwas ratlos.

"Nehmen wir diese, äh, erst mal", schlug John vor. "Und die anderen … dort, ein, zwei Reihen weiter?"

Ein Fahrgast sah auf und wies auf ein kleines Schild über den vier freien Plätzen. "Schauen Sie, reserviert ab dem nächsten Halt. Dann müssten Sie gleich noch mal wechseln."

Eine Reihe weiter standen zwei Fahrgäste auf und sagten: "Kommen Sie, wir steigen an der nächsten Station aus. Dann sind hier auf jeder Seite drei Plätze frei."

"Das ist aber nett!" Isa strahlte wieder. "Woher wissen Sie aber, dass jetzt Ihr Bahnhof kommt? Wurde doch noch gar nichts ausgerufen!"

"Na ja, wir fahren die Strecke öfter. Und da draußen an der Straße war sogar schon das Ortsschild zu sehen."

"Ortsschild?"

"Da guckt man beim Autofahren drauf, wenn man kein Navi hat", flüsterte Jochen ihr ins Ohr.

Isa zuckte mit den Schultern, und alle setzten sich. Ein paar Minuten redeten sie noch aufgeregt darüber, welche Wanderroute geplant war. Dann zogen alle ihre Smartphones und Earbuds heraus und checkten ihre Nachrichten.

Eine gute halbe Stunde später hörten sie durch den Lautsprecher ihr Fahrtziel.

Alle sprangen auf, suchten Rucksäcke, Phones, Flaschen zusammen und erreichten die Tür gerade noch, bevor sie wieder schloss. Auf dem Bahnhof schauten sie sich um, und Judith fragte etwas unsicher: "Und nun?"

Isa studierte den Routenplaner. "Erst mal auf den Vorplatz", entschied sie. Sie gingen eine Treppe hinunter, musterten unsicher den Gang, entschieden sich dann für die linke Seite, stiegen dort eine Treppe hoch - und standen vor Lagerhallen.

"Also doch auf der anderen Seite! Kinder, Abenteuer!"

Sie lachten, stiegen wieder hinunter und fanden den Ausgang zum Bahnhofsvorplatz.

"Dort!" Isa wies auf ein Schild mit einem großen Pfeil und einem Baumsymbol.

Sie gingen die angewiesene Straße hinunter, dann noch eine, die quer dazu verlief, und dann standen sie am Waldrand. Isa studierte immer wieder den Routenplaner, stolperte gelegentlich vor lauter Konzentration über eine Wurzel, wies an jeder Weggabelung in eine Richtung, und die Wanderung nahm ihren Lauf. Nach einer guten Stunde sagte Bert: "Leute, die Wege werden immer schmaler. Sicher, dass wir richtig sind? Müsste hier nicht irgendwo auch dieser Gasthof sein?"

Isa kaute an ihrer Unterlippe und schob das Bild auf dem Smartphone langsam hin und her.

"Mir fehlt da noch eine Kreuzung. Wir haben doch erst eine richtige Kreuzung passiert, also so eine mit Wegweisern, oder? Da müsste erst noch eine kommen."

"Was stand denn auf den Wegweisern bei der ersten?", fragte Bert.

"Na, du bist lustig. Jedenfalls kein Messer-Gabel-Zeichen. Kommt, ein Stück weiter noch. Wird dann bald kommen."

Doch nach einer weiteren halben Stunde waren sich alle sicher, dass sie sich verlaufen hatten. Sie erfrischten sich erst einmal mit ein paar Schlucken Wasser, aber eine Idee brachte das auch nicht hervor.

"Und nun?"

Isa tropfte der Schweiß von der Stirn. "Wenn ich hier bloß ein Zeichen finden würde, mit dem ich den Weg wiederfinden könnte."

"Mädchen, Standorterkennung?"

"Was weiß ich - geht nicht. Zeigt immer bloß die Kreuzung von vorhin an. Zumindest nehme ich an, dass es die ist."

John zog ein Heftchen aus der Tasche. Alt und abgegriffen.

"Was ist das denn?"

"Wanderrouten im Umland. Hat mir meine Mutter zugesteckt, und ich wollte sie nicht ärgern, also habe ich es mitgenommen."

"Und was macht man damit?"

"Man … liest es. Sucht seinen Start- und Zielort und liest nach, welche Wege dahin führen."

"Uff. Damit kommt deine Mutter zurecht?"

"Was sonst. Phone nimmt sie nur zum Telefonieren."

"Und wie wissen wir, wo wir sind?"

Alle beugten sich über das Heftchen. John blätterte langsam darin herum.

"Da!" Judith tippte auf ein Bild. "Das ist doch die Scheunburg!"

"Da wollten wir sicher nicht hin, die ist Stunden entfernt."

"Aber vielleicht finden wir auch ein Bild von dem Gasthof - wie heißt er gleich?"

"Brunnbauer." Isa blätterte weiter und stieß einen Schrei aus, als sie tatsächlich ein Bild von einem Gasthof fand mit frisch renoviertem Brunnen davor.

"Okay, und nun? Wie finden wir, wo wir sind?"

"Was stand denn nun auf den letzten Wegweisern, an denen wir vorbeigekommen sind?"

"Klugscheißer! Hab' ich doch nicht gelesen!"

"Jochen, hast du?"

Der zuckte mit den Schultern. "Nach rechts ging es zum Bahnhof. Da müssen wir wohl auf einem Umweg gekommen sein. Mehr weiß ich auch nicht."

"Merke fürs nächste Mal", dozierte Bert mit erhobenem Zeigefinger: "Wegweiser lesen!"

"Himmel!" Isa war am Ende ihrer Geduld. "Kannst du etwa lesen?"

"Ich? Na, nein, nicht wirklich. Ich dachte, du?"

"N-nein. Man kann doch alles heute per Spracheingabe oder so machen. Und mit Sprachausgabe. Wozu lesen?"

"Kann denn keiner von uns lesen?"

Automatisch blickten sie alle Jochen an. Aber der hob nur die Hände mit einem hilflosen Lächeln.

"Warum sollte es mir anders gehen als euch?"

Bastian, der bisher wenig gesagt hatte, Bastian, der Außenseiter, der immer die falschen Witze erzählte und die falschen Spiele spielte, nahm den Wanderführer und wies auf das Titelblatt.

"Das hier heißt ‚Wandern', und das hier ‚Neustadt'. Aber wir sind doch bis Ackerhausen gefahren. Hilft uns also wohl wenig."

"Wieso kannst du lesen?"

"Schule?"

"Klugscheißer."

Plötzlich knackte es im Unterholz und ein fröhlich mit dem Schwanz wedelnder Hund umsprang die Gruppe. Eine Stimme rief: "Puck, langsam, erschreck die Leute nicht!" - und dann stand ein waschechter Förster vor ihnen, schmuck wie aus dem Bilderbuch.

"Ach, ist das gut, Sie zu sehen, Officer", sagte Isa mit ihrem charmantesten Strahlen. "Wir wollten zum Gasthof Brunnbauer und haben uns verlaufen. Sie können uns doch bestimmt helfen!"

Der Förster wies auf den Weg, den sie gekommen waren.

"Dort entlang bis zum Schild mit der Aufschrift ‚Brunngeräumt', dann rechts und immer geradeaus. Knappe Stunde, denke ich. Sie sind ja jung und fit! Schönen Tag noch!"

Er tippte an seinen Hut und verschwand samt Puck im Gebüsch.

"Wegweiser. Schilder. Als ob es nichts anderes gäbe."

"Ha!", schrie Isa plötzlich. "Jetzt geht die Standorterkennung wieder. Da! Jetzt habe ich es, diesen Weg zurück, und dann irgendwann rechts. Wir können!"

Alle nahmen erleichtert einen Schluck Wasser und setzten ihren Weg fort. John stopfte den Wanderführer in seinen Rucksack.

"Lesen", raunte er dabei leise und beinahe verächtlich in Richtung Bastian, "pa!"



Brigitte Hutt Mai 2023

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