Das Auge
Die dicke Alte auf dem Rathausplatz war einfach zu beschäftigt mit ihrem ebenso dicken Köter. Der zog und zog und kläffte und kläffte, bis sie seufzend nach ihrer Handtasche griff, von der Bank aufstand und, vom Köter an der Leine gezogen, das Kopfsteinpflaster entlangstolperte und um die Ecke verschwand. Zurück blieb die kleine Kameratasche.
Er schaute ein paar Mal möglichst unauffällig in alle Richtungen, während er sich der Bank im Spazierschritt näherte. Dann bückte er sich leicht, schnippte ein Stäubchen von seinem Hosenbein - und ließ die Kameratasche in seinen Mantel gleiten. Schwer war sie, also wohl nicht leer. Vor Aufregung schlug ihm das Herz im Hals, aber er beherrschte seine Neugier und legte erst einmal mindestens einen Kilometer zwischen sich und den Platz. Dann schlüpfte er in die Nische zwischen Jakobikirche und Müllhäuschen, hockte sich auf einen Stapel Altpapier und zog seinen Fund heraus. Mit zitternden Fingern zerrte er am Reißverschluss.
Donnerwetter. Auf den ersten Blick ein feines Apparätchen. Er musterte die winzigen Tasten und Regler und fand den Anschalter. Das Objektiv fuhr aus, das Display wurde hell und zeigte gestochen scharf die abblätternde Wand des Müllhäuschens und eine Menge Anzeigesymbole drum herum.
Donnerwetter. Er probierte den Zoom, hielt das handliche Dingelchen in verschiedene Richtungen und beobachtete, wie das Display sich jeweils scharf stellte. Verdammt feines Apparätchen. Als er die schon gespeicherten Fotos abrief, schüttelte er verächtlich den Kopf. Die üblichen Touristenmotive, und dann auch noch beliebig schief. Da sollte die Alte doch besser Postkarten kaufen und das Fotografieren den Profis überlassen.
Profi, das war er, war er mal gewesen. Das war zu einer Zeit, wo Fotografieren noch richtig Handwerk war, und er, er hatte aus allen Motiven das Ultimative herausgeholt, hatte mit Blende und Belichtungszeit gezaubert und noch dem müdesten Brautpaar ein Strahlen verpasst. "Das Auge" hatte man ihn genannt, und der Spitzname war ihm geblieben, auch wenn seine heutigen Kumpane die Bedeutung nicht mehr kannten.
"Das Auge" hatte vor allem in der Landschaft, aber auch im Großstadtdschungel immer messerscharf die wirklich lohnenden Motive erkannt und brillant festgehalten. Vielleicht hätte er sich noch einen unsterblichen Namen gemacht, der Man Ray des 21. Jahrhunderts sozusagen, wenn er nicht alles verzockt hätte, sein Einkommen, seine Ersparnisse, das Geld von Freunden, die er natürlich danach nicht mehr hatte.
Und jetzt dieser Fund - das war ein Gottesgeschenk. Nicht, dass er an Gott glaubte, aber ein besseres Wort fiel ihm nicht ein. Er überlegte. Es gab da diesen Fotowettbewerb, er hatte die Plakate gesehen, Blumen, Rosenblüten und so. Eigentlich ein albernes Thema, aber man konnte aus allem etwas machen. Er konnte. Wenn er sich da jetzt beteiligte? Er hatte noch immer, er war noch immer "das Auge".
Er machte sich auf in den Park, zu den Rosenhängen. Die Sonne stand schon schräg, aber Gott sei Dank auf der richtigen Seite. Er suchte die schönsten, verheißungsvollsten Blüten, frisch aufbrechende Knospen neben angedeutetem Verwelken, gab ihnen die wildesten Perspektiven und Winkel, turnte am Hang herum wie in alten Zeiten und knipste, knipste, knipste. Ganz ruhig waren seine Finger jetzt, ganz klar und scharf das Auge.
Irgendwann hielt er aufatmend inne und betrachtete prüfend den Sonnenstand. Wenn er sich beeilte, bekam er vielleicht noch eine Seerose drauf, die am unteren Teich mussten jetzt blühen. Er stolperte den Hang hinunter, die Kamera wieder in der Manteltasche.
Am unteren Teich sah er sie sofort, wie sie ihre makellos weißen Blätter den Sonnenstrahlen entgegenstreckten, wie edles Porzellan auf dem grünen Blattteppich schwebten, der Sonne ihre goldene Mitte zugewandt. Vor allem eine, die gar nicht weit weg war vom Ufer, die nahm er aufs Korn. Die Sonne stand seitlich, kein Gegenlicht, das müsste klappen. Er suchte sich einen guten Stand möglichst nah am Ufer, er konnte nicht riskieren, sein einziges Paar Schuhe im Wasser zu verderben. Dann spielte er mit dem wirklich unglaublichen Zoom herum.
Ein kleines bisschen näher müsste er noch kommen, nur ein kleines bisschen. Dort, die Steine am Ufer, die sahen ideal aus. Er kletterte auf den flachsten davon und visierte die Seerose erneut an, hob die Kamera etwas höher, schob die Arme etwas weiter vor, konzentrierte sich auf das Display. Schon toll, das Ding nicht mehr vors Auge halten zu müssen. Und so klein waren die Apparate heute, fabelhaft.
Da hörte er laute Schritte und Rufe.
"Halt, haltet ihn, da, da, haltet ihn!"
Die Kamera entglitt seinen plötzlich feuchten Händen, und er machte einen Satz, um sie zu halten. Sie sprang von seinen Fingern ab, sein rechter Fuß glitt vom Stein, er ruderte mit beiden Armen in der Luft, rutschte auch links ab und fiel kopfüber in den Teich, dessen Boden an dieser nicht besonders tiefen Stelle von Steinen übersät war. Einer davon war das letzte, was Das Auge in dieser Welt wahrnahm.
Etwa 20 Meter entfernt übergab ein hilfsbereiter Mitmensch einen Rucksack seiner dankbaren Besitzerin, die ihn daraufhin zu einem Kaffee einlud. Der Taschendieb war schon verschwunden.
© Brigitte Hutt, Kassel, Juni 2017