Auto 2030
Fortbewegung ist so einfach geworden. Ich steige in mein KI-A (KI-Automobil, nicht zu verwechseln mit irgendwelchen Herstellern), informiere es über das Ziel, natürlich per Spracheingabe, gebe mit Fingerabdruckscan die Fahrt frei, es parkt aus, völlig schrammenfrei, und los geht's. Höflich werde ich gefragt, ob ich das Radio einschalten möchte - Verkehrsfunk brauche ich ja nicht, dass macht die KI allein - und welchen Sender, aber ich lehne ab und mich zurück.
Die letzten Häuser der Stadt verschwinden hinter mir. Die Autobahnauffahrt nimmt das KI-A mit Schwung und fädelt sich problemlos ein. Jetzt vielleicht doch etwas Radio? Mist, grad jetzt Nachrichten. Na ja, dauert ja nicht lang.
"Neueste Hackerangriffe wenden sich gegen die zunehmenden automatisierten Haushaltshelfer. Man könnte sagen: My Smarthome ist nicht unbedingt my castle! Auch Mähroboter, Außenalarmanlagen und Garagenanlagen betrifft es. Wie der Redaktion zugetragen wurde ..."
"Radio aus."
Haben die nichts Wichtigeres zu melden? Gut, die Sonne scheint, vielleicht ist das genug Unterhaltung. Die Autobahn ist so voll, es geht quälend langsam voran. Da helfen wohl auch die vielen KI-Automobile nicht. Noch ein Versuch: "Radio an!"
Na endlich, Musik. Oh, das mag ich: "Paradise". Ja, mit KI kommen wir dem Paradies näher, zumindest in Teilbereichen. Ah, da ist schon das Autobahnkreuz - wie gut, dass ich mich nicht kümmern muss.
Auf der nächsten Autobahn ist der Verkehr flüssiger. Leise summe ich eine Radiomelodie mit: "Following the sun." Ja.
Plötzlich Bremsen. Doch wieder Stau? Was machen die Autos vor mir gerade - und vor allem, hinter mir? Hupen, überholen, gestikulieren. Na ja, was sonst? Was ist nur los? Ich inspiziere die Anzeigen am Armaturenbrett. Nichts!
Mein KI-A setzt den Blinker, steuert den Seitenstreifen an, rollt aus. Keine Anzeige eines Vorkommnisses. Tank voll, Elektronik läuft. Während ich noch versuche, etwas herauszubekommen, setzt sich ein anderes Auto hinter das meine. Im Rückspiegel sehe ich den Fahrer gestikulieren. Ich greife nach dem Türgriff, will aussteigen - da hält ein weiteres Auto ein paar Meter vor mir, und dann noch eins hinter uns dreien. Was ist hier los? Ich öffne die Tür. Will die Tür öffnen. Sie bewegt sich nicht. Ein Blick nach vorn und ein weiterer in den Rückspiegel: Den anderen Fahrern und Fahrerinnen scheint es nicht besser zu gehen. Verfluchte Automatik! Die Dinger können doch nicht einfach die Regie ...
Ah, gut, es geht weiter. Mein KI-A startet, rollt sanft geradeaus, die anderen auf dem Seitenstreifen machen es genauso. Da vorn ist eine Ausfahrt, sehe ich, und wir alle, unser Konvoi, unser unfreiwilliger Konvoi, rollt darauf zu, alle Blinker brav gesetzt. Wolkenburg - was wollen wir da? Inzwischen sind es schon neun Fahrzeuge, die diesen Weg nehmen.
Mir reicht es, schließlich habe ich einen Termin. Ich greife nach dem Steuer und drücke, zum ersten Mal in zwei Jahren, den pinkfarbenen Knopf "Automatik abschalten". Er blinkt kurz als Antwort - weiter geschieht nichts. Ein Blick in den Rückspiegel zeigt mir, dass mein Nachfahrer wütend auf das Steuerrad haut. Unwillkürlich muss ich grinsen. Natürlich hilft das auch nichts.
Meine Vorderfahrerin kurbelt das Fenster herunter - zumindest sieht es so aus, als wolle sie das, sie scheint heftig auf den betreffenden Knopf zu drücken, es ist ja heutzutage kein "Kurbeln" mehr. Aber auch hier wohl keine Reaktion. Neun PKW, neun KI-A rollen auf das Ortsschild Wolkenburg zu. Im Gleichtakt schalten alle von 80 km/h auf 50 zurück und rollen in den Ort. Sicherlich bieten wir ein schier unglaubliches Bild - neun ordentlich in Reihe fahrende Autos und darin wild gestikulierende Menschen.
Die Fahrzeuge nehmen eine Rechtskurve, dann noch einen Schlenker nach links, und es öffnet sich ein Platz. Der Ort scheint nicht groß. Der Platz ist beinahe voll mit - schätzungsweise - 50 PKW, ringsumher Fußgänger, die johlend auf und ab hüpfen und Transparente schwenken.
Alle unsere Fahrzeuge finden passende Parkplätze, halten und schalten den Motor ab. Aus einer Straße rechts kommt noch ein kleiner Konvoi hinzu, fügt sich dem Gesamtbild nahtlos ein. Jedes Fahrzeug findet einen Platz, keines behindert die anderen. Alle Fahrer und Fahrerinnen schauen ratlos aus den Fenstern. Plötzlich fahren die Seitenscheiben wie auf einen gemeinsamen Befehl herunter, und wir hören die Fußgänger skandieren:
"Das ist die letzte Autogeneration" - "Wasser ist flüssig, Benzin überflüssig" - "PKW tut dem Klima weh" - man versteht nur Bruchstücke, aber genau diese Parolen stehen auch auf den Transparenten, die die Menschen schwenken. Was geht hier vor? Wie können PKW-Hersteller so etwas zulassen, so einen Protest gegen ihre eigenen Erzeugnisse?
Mein Autoradio unterbricht die Musik mit einer Eilmeldung.
"Achtung Autofahrer. Wie uns soeben gemeldet wurde, haben Hackerbanden alle KI-Automobile übernehmen können und steuern sie nach ihrem eigenen Plan. Eingriffe durch den Fahrer scheinen unmöglich. Bitte bewahren Sie Ruhe. Wir melden, sobald es etwas Neues gibt." Es folgt eine Art Meditationsmusik, nicht gerade mein Fall. Aber auch die Radiosteuerung gehorcht mir auch nicht mehr.
Wir blicken alle ziemlich ratlos in der Umgebung herum. Die Fußgänger lachen, singen, brüllen, winken. Eine Frau wirft Blumen in die offenen Autofenster, ein Mann Bonbons. Das geht so ungefähr eine halbe Stunde. Etwa alle fünf Minuten berichtet das Autoradio, dass ähnliche Versammlungen aus weiteren Orten gemeldet werden. Dann plötzlich geben alle Autos - alle! zugleich! - ein kurzes Hupsignal von sich, die Passanten weichen zurück, die Seitenscheiben fahren hoch, und unglaublich geordnet setzen sich alle Fahrzeuge nach und nach in Bewegung, jedes offensichtlich in die Richtung, aus der es auch gekommen ist. Zehn Minuten später bin ich wieder auf meiner Autobahn, auf meiner Strecke. Das Radio ist zum Normalprogramm zurückgekehrt. Bei den nächsten Nachrichten zur vollen Stunde meldet es nur noch, dass Demonstrationen von KI-Automobilen und Fußgängern in mindestens 20 Städten störungsfrei über die Bühne gingen, dass die Verursacher*innen noch nicht gefunden seien, dass die Polizei sie aber mit Hochdruck suche.
Eine Stunde später parkt mein KI-A sauber vor dem Bürohaus ein, in dem ich erwartet werde. Ich beeile mich auszusteigen - es geht alles wieder! - und in den Lift zu gelangen. Ohne dass ich ein Signal gegeben hätte, schließen sich die Türen und öffnen sich wieder im vierten Stock. Mein Anwalt erwartet mich mit offenen Armen und einem breiten Lächeln: "Danke, dass Sie die SMS geschickt haben! So wussten wir genau, um wie viel Sie sich verspäten würden. Und diese Demonstrationen waren ja wohl etwas ganz Besonderes. Etwas noch nie Dagewesenes. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen! Erzählen Sie, erzählen Sie."
Ich muss sagen, ja, KI ist wirklich nicht schlecht.
© Brigitte Hutt 2024, Visionärin