Documenta 14 und der Umgang mit dem Fremden
Kassel ist eine spannende Stadt. Sie ist nicht pittoresk wie so viele deutsche Städte inzwischen sind, sie hat vor allem ein Alltagsgesicht. Die Menschen hier leben und arbeiten, und alles ist nicht besonders bemerkenswert, man könnte auch sagen: beruhigend unspektakulär. Alle fünf Jahre aber zieht mit viel Aufwand und noch mehr Presse die Kunst hier ein: eine documenta findet statt, zeitgenössische Kunst überflutet einige Dutzend Standorte, breit gestreut in alle Stadtviertel. Auch das wird von den Einwohnern der Stadt gelassen ausgehalten, gehört es doch seit mehr als 60 Jahren dazu. Man schaut einfach, was es Neues gibt und kümmert sich ansonsten darum, dass die lokale Wirtschaft vom Besucherstrom profitiert, bewirbt die "Stadt hinter der documenta".
Zur documenta gehört immer auch Kunst im öffentlichen Raum, und ebenfalls dazu gehören die bei aller Gegenwartskunst allgegenwärtigen Fragen: Was ist noch nie dagewesen? Wie kann man noch neue Kunst machen? Wie kann man alle verfügbaren modernen Medien einbeziehen? Und: Ist das dann noch Kunst?
Vor allem: Zur documenta gehört, wie die Werbung zum Weihnachtsfest, die Kritik am aktuellen Kurator. Er oder sie kann machen, was er oder sie will, es ist in jedem Fall für einen oder mehrere empörte Aufschreie gut. Und, auch das gehört dazu, fünf Jahre später werden dann die jeweiligen innovativen Konzepte des vorherigen Kurators schmerzlich vermisst.
Adam Szymczyk, documenta 14/2017, macht es politisch. Das war schon länger nicht mehr angesagt, also ist das sein spezielles Merkmal. Er macht es allerdings belehrend, obwohl er eigentlich von einer Ausstellung der "Möglichkeiten" spricht, was intuitiv eigentlich als Gegensatz zu Belehrung verstanden wird. So meint es auch die Presse. Nun hat Szymczyk statt eines Katalogs, eines Wegweisers also, ein kompliziertes Geflecht von viel zu großen Begleitbüchern erfunden, die vor allem dazu einladen, die documenta völlig ohne diese Bücher zu erkunden, was aber wiederum dadurch erschwert wird, dass die Beschriftungen der Kunstwerke nachlässig angebracht und mitunter schwer zu finden sind. Also: eine documenta, die ganz und gar dazu einlädt, Kunst mal wieder mit dem eigenen Gefühl und Verstand, den eigenen Sinnen und auch der Seele einzusaugen und die eigene Interpretation zu finden. Ist es nicht das, was Kunst sein sollte? Was Künstler wollen? Dass der Betrachter das Kunstwerk vollendet, indem er sein eigenes Empfinden hinzufügt? Jedenfalls fiel es selten so leicht, auf das Begleitmaterial zu verzichten und sich nur auf sich selbst zu verlassen, die eigene documenta zu erleben. Wegen oder trotz Adam Szymczyk, das ist unwichtig. Also: Ab nach Kassel!
Eines der Kunstwerke möchte ich speziell betrachten, eines, das im öffentlichen Raum steht und von vielen Passanten gar nicht mal als Teil der documenta wahrgenommen wird, zumal es mitten auf dem Kasseler Königsplatz steht, als sei es immer schon dort gewesen:
Der Obelisk des Exilnigerianers Olu Oguibe mit der biblischen Botschaft "Ich war ein Fremdling und ihr habt mich aufgenommen" - und das in Deutsch, Englisch, Arabisch, Türkisch. Die meisten Menschen, die die Beschriftung wahrnehmen, wissen nicht einmal ihren Ursprung, und damit meine ich nicht die, die sie auf Türkisch oder Arabisch lesen. Kinder fragen in aller Unschuld, was das denn bedeute. Ihre Eltern mühen sich redlich, es zu erklären. Wer es auch versuchen möchte: Bibel, Neues Testament, Matthäus-Evangelium, Kapitel 25, Vers 35. Aber es ist besser, Sie lesen das ganze Kapitel für den Kontext.
Obelisken kommen aus dem alten Ägypten, wurden von europäischen Feldherren als Trophäen mitgebracht und als triumphales Siegeszeugnis aufgestellt, aufgepflanzt wie ein Gipfelkreuz. Und nun steht da ein schlichter von einem Afrikaner geschenkter Obelisk, der ein triumphales Zeugnis christlicher Nächstenliebe auf seinen vier Seiten zeigt. Er steht mitten in einer Stadt, deren öffentlicher Raum von so vielen Sprachen und Hautfarben geprägt wird - vor allem, aber nicht nur in documenta-Zeiten - wie wenige. In einer Stadt, die mit dieser multikulturellen Vielfalt lebt, unspektakulär lebt, den Alltag lebt. Eine Stadt, die die Fremdlinge schon aufgenommen hat. Sicher nicht nur im Guten, sicher nicht nur herzlich, aber das fordert die biblische Aussage ja gar nicht. Diesen Obelisken sehe ich (ich, nicht die Begleitbücher) als ein Triumphzeichen für die Aussage: "Es ist möglich!"
Das ist mein Raum der Möglichkeiten, meine documenta, mitten in den Herausforderungen des heutigen Lebens. Möge (!) der Obelisk in der Stadtlandschaft stehenbleiben. Und seine Botschaft oft kopiert werden.
© Brigitte Hutt Juni 2017