Erinnerung
Was für ein Abend! Das Licht reicht gerade noch, um den Weg in die Schlucht zu finden. Vielleicht reicht es auch noch für den Rückweg. Die Wolken jagen einander, das Sonnenlicht, das sich in ihnen fängt, tendiert zu blutrot. Wild. Naturgewaltig. Passend zu meiner Stimmung. Untergang, Sonnenuntergang. Gefühlsuntergang. Gibt es das? Gehen Gefühle unter, oder fressen sie sich nur tiefer in die Seele, um in der Erinnerung zum Dauerschmerz zu werden?
Ich stolpere um die letzte Kurve, dann kommt der kleine Felsvorsprung, auf dem ich - natürlich steht gerade heute dort schon jemand anderes. Ein Maler, auch das noch. Versucht mit rasenden Pinselstrichen die Wolkenberge einzufangen; die Felsen darunter hat er wohl schon.
Langsam gehe ich näher, schaue ihm über die Schulter. Das Blutrot hat er getroffen, aber in seinen Farben ist es eher noch stärker, noch wilder, unheimlicher. Unwirklicher, obwohl ich es ja in Natur sehe, gerade so sehe. Seine Felsen sind schwarz, zackig - auch die entsprechen der Wirklichkeit. Trotzdem hat das Bild etwas Fantastisches, als sei es ausschließlich einem unruhigen Geist entsprungen. Später wird man es für Kitsch halten, denke ich hämisch. Nur hier und jetzt ist es wirklich, nachvollziehbar, und hier braucht man es nicht.
"Finden Sie es unrealistisch?"
Seine Frage erschreckt mich. Er hat mich also tatsächlich bemerkt, obwohl er keine Reaktion sehen ließ. Seine Stimme scheint aus dem Nichts zu kommen, klingt körperlos. Ich schaue in die jagenden Wolken. Das Rot ist bereits blasser geworden, die Felsen, wenn möglich, noch schwärzer.
"Jetzt", antworte ich schließlich, "jetzt ist es schon unrealistisch, vor einer Minute noch war es ein Abbild dessen, was die Natur uns da gerade vorspielt."
Er gibt einer Wolke einen Lichttupfen und antwortet: "Die Realität ist in ständigem Wandel, man kann immer nur das einfangen, was schon vergeht, schon vergangen ist, und auch das nur bruchstückweise."
"Warum fängt man es dann ein?"
"Vielleicht, weil es einem wichtig ist. Weil man es erneut anschauen möchte."
"Aber ein Bild ist nicht dasselbe wie die Realität", beharre ich.
"Nein, es ist eine Idee davon, eine Erinnerung."
"Wozu Erinnerung?", sage ich verärgert. "Man kann ja …"
"Kann man? Was kann man?"
Ich schweige. Die Dunkelheit hat nun den Vorrang gewonnen, die Wolkenfarbe ist bleich, hellorange, dann blassgelb, wie ausgewaschen.
"Wozu Erinnerung?", frage ich, und ich weiß nicht, ob ich ihn frage.
Er dreht sich noch immer nicht um, konturiert trotz des spärlichen Lichts sorgfältig ein winziges Bäumchen, das ich auf dem Felsen gegenüber erst jetzt wahrnehme, erst aufgrund seines Bildes wahrnehme.
"Die Erinnerung ist oftmals stärker als das Erleben", höre ich seine Stimme.
"Die gute Erinnerung oder die schlechte?", frage ich, und ich spüre Tränen aufsteigen.
"Beide", antwortet er, "und wir stehen dem machtlos gegenüber."
Er hört auf zu malen, aber die Farben des Bildes leuchten stark im Restlicht des Abends. Seine Wolken scheinen zu schweben, sich zu bewegen.
"Was, wenn man die Erinnerung gar nicht will?", flüstere ich.
"Dann kann man sie ... ich möchte fast sagen, verbessern", antwortet er, tupft den Pinsel auf seine Palette und hellt eine der Wolken etwas auf, gibt einem Felsen einen winzigen Lichtreflex.
"Quatsch", sage ich verärgert.
"Haben Sie es jemals versucht?", fragt er ungerührt.
"Ich kann nicht malen, und meine Erinnerungen sind in mein Hirn eingebrannt", entgegne ich widerwillig.
"Und Sie sind sich sicher, dass Sie daran nicht malen? Verschönern? Verschlimmern?"
Ich öffne schon den Mund für eine Antwort, dann schließe ich ihn wieder. Er packt seine Utensilien zusammen, steht auf und nimmt das Bild von der Staffelei. Das Bild in der einen, Staffelei und Tasche in der anderen Hand macht er einen Schritt nach vorn.
"Halt", rufe ich erschrocken, "da geht kein Weg!"
Kurz dreht er sich zu mir herum, aber ich sehe sein Gesicht nur verschwommen. "Für mich schon", antwortet er, und seine Stimme scheint zu verwehen, "ich bin nur Erinnerung."
Dann ist er weg, nur noch Erinnerung. Ich stehe noch eine Weile im restlichen Licht, dann drehe ich mich um, finde tastend den Rückweg. Das Bild, dessen Entstehen ich gesehen habe - was habe ich da gesehen? Habe ich geträumt? Die Gefühle und Gedanken, mit denen ich hierher aufgebrochen bin, sind nun eingefangen in einem Bild. Mit jagenden blutroten Wolken. Aber auch mit der Möglichkeit, sie aufzuhellen.
Hommage an Caspar David Friedrich, 1774-1840
© Brigitte Hutt, August 2017