Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Harfe

Der falsche Ton

Steiner zog hastig den Frack über. Er war ziemlich spät dran, die anderen Musiker waren schon alle fertig und spielten sich ein. Steiner hatte das Gefühl, Watte in den Ohren zu haben. Selbstverständlich beherrschte er das Konzert, schließlich war er Profi, und sein Harfenpart war nicht besonders schwierig. Aber er fühlte sich heute irgendwie falsch, er stand regelrecht unter Schock. Und nun das Konzert.

Seit Monika, seine Frau, seine Partnerin seit so vielen Jahren, ihm das vorhin eröffnet hatte, erschien alles ringsumher dumpf und blass, und in seinem Kopf drehte sich nur noch ein Gedanke. Das konnte einfach nicht wahr sein. Nicht bei uns, ratterte es in seinem Kopf, nicht bei uns. Und das in dieser komischen Melodie, die ihn nicht losließ seit Monikas Eröffnung. Daa -- da-dam.

Wie Watte in den Ohren. Gut, die Zeichen des Dirigenten würde er sehen, seine Augen waren scharf. Und die Kollegen hören würde er sicher auch gut genug, trotz dieses Gefühls. Er war Profi.

Nicht bei uns. Daa -- da-dam.

Der Einzug der Musiker verlief wie gewöhnlich, auch wenn die Knie sich etwas weich anfühlten. Er nahm Platz hinter seiner Harfe und achtete aufmerksam auf das Signal zum Stimmen. Alles gut, er war Profi. Nicht bei uns. Daa -- da-dam.

Alles würde sich jetzt ändern, aber er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Verkrampft schluckte er, sammelte sich, schaute nach vorn. Der Dirigent war hereingekommen, das Publikum hatte applaudiert, nun nahm er seinen Taktstock und gab den Einsatz. Die Harfe war noch nicht dran, erst gegen Mitte des ersten Satzes war es soweit. Die vertrauten Klänge des Konzerts beruhigten ihn etwas. Alles gut, er war Profi. Nicht bei uns. Daa -- da-dam.

Er schaffte das Konzert, schaffte haarscharf alle Einsätze, auch wenn die Watte nicht aus den Ohren wich, auch wenn die Melodie nicht aus dem Gehirn wich. Nicht bei uns. Daa -- da-dam.

In der Pause musterte ihn der Oboist Bronner kritisch. "Was ist los mit dir? Du hast beinahe unkonzentriert gewirkt. Bist du krank?"

"Oh, nein. Nicht krank. Und hochkonzentriert, das kannst du mir glauben", entgegnete Steiner. Seine Stimme war etwas rau, als ob er geschrien oder geweint hätte. Aber er war Profi. Nicht bei uns. Daa -- da-dam.

Er ging hinaus und rauchte eine Zigarette, betrachtete das Glutende lange. Es verglimmte und wurde schwächer, schwach wie ...

Nicht bei uns. Daa -- da-dam.

Im zweiten Stück des Abends hatte er ein Solo. Aber nachdem bis zur Pause alles gut gegangen war, traute er sich auch das zu. Es gab ja ohnehin keine Alternative. Nicht bei uns. Daa -- da-dam.

Monika, verdammt. Musste das ausgerechnet jetzt sein. Ausgerechnet heute. Daa -- da-dam.

Der Gong. Das Orchester zog ein, er nahm Platz hinter seiner Harfe. Der Dirigent erschien, gab den Einsatz. Die Violinen ließen das wunderschöne Adagio erklingen, dem sein Harfensolo wie klingende Glocken folgen sollte. Er schluckte, schluckte noch einmal, um die Ohren frei zu bekommen. Der Dirigent gab jetzt ihm das Zeichen, und er griff in die Saiten.

Plötzlich wusste er, was das war, diese Melodie in seinem Kopf: Daa -- da-dam, daa -- da-dam.

Und seine Finger griffen sie, fast ohne sein Zutun, während es in seinem Kopf sang: "Hänschen klein - ging allein - in die weite Welt hinein."

Er sah die weit aufgerissenen Augen seiner Kollegen, den entsetzten Blick vom Dirigentenpult. Er spürte die atemlose Stille im Saal. Seine Ohren waren wieder frei! Er improvisierte zwei Takte und glitt dann ohne Mühe in sein Solo hinein. Schwungvoll spielte er, fast wie in Trance. Wie gut, dass die Ohren wieder frei waren. Die Flöten fielen ein, dann die Violinen, die Celli. Alles war gut. Sie würden es schaffen. Er war Profi.

Wenn Hänschen erst auf der Welt war, würde er für ihn spielen. Und Monika musste er heute Abend noch in den Arm nehmen.

© Brigitte Hutt 2020

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