Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Turm

Fantasy

"Yola? Bist du bereit?"

Ein Krachen, ein Ächzen, dann stand sie neben ihm auf dem Dach.

"Bereit."

Er beschattete seine Augen mit der Hand und musterte die spärlichen Wolken im blauen Himmel.

"Nicht der beste Tag, oder?"

"Egal, Baro. Es gibt nichts mehr zu tun. Wir ziehen das jetzt durch."

Er nickte und spannte seine Schultern an. Sie nahm seine Hand und trat an den Rand des Dachs.

"Als wir damals ankamen", sagte sie nachdenklich, "da hatten wir noch Hoffnung. Dass wir etwas bewirken könnten. Dass wir diese ... diese Menschen zum Umdenken bewegen könnten. Weißt du noch?"

Er nickte traurig. "So ein schöner Planet. Diese Fülle an Ressourcen, an Möglichkeiten. An Leben."

"Und sie verschwenden es, ohne an die Zukunft zu denken."

"Wie viele Länder haben wir bereist, bis wir das Mädchen gefunden haben?"

"Oh, ich weiß nicht mehr. Sicherlich zwanzig, fünfundzwanzig. Aber da oben im Norden, da ist es karger und kühler. Da sind die Menschen wohl eher bereit nachzudenken."

"Ich weiß nicht, ob es daran liegt. Sie ist eben ein wenig anders als die meisten, und auch ein wenig einsamer. Da lernt man das Nachdenken. Auf jeden Fall hat sie etwas begriffen."

"Und sie hat diese Bewegung losgetreten. Klar, wir haben ein wenig nachgeholfen, aber es war nicht viel nötig. Die jungen Menschen sind es, die aufgehorcht haben. Die haben noch Fantasie. Die können sich noch vorstellen, dass nicht immer alles weiterlaufen muss wie gehabt."

"Sie hatten es auch schwer genug, die älteren Generationen zu überzeugen. Geht gar nicht, man muss doch bedenken, und überhaupt ..."

"Ja, Bedenken. Das ist eines ihrer wichtigsten Wörter. Und dabei bedenken sie vor allem, dass der Status Quo erhalten bleiben muss. Warum sie das wollen, darüber denken sie nicht nach."

"Eigentlich ganz einfach: Sie haben Angst vor Veränderung."

"Aber sie machen sich nicht klar, dass sie viel mehr Angst davor haben müssten, wohin sie kommen, wenn sie nichts ändern."

"So sind sie. Was sie nie erlebt haben, können sie sich nicht vorstellen."

Sie lachte. "Und dafür haben sie sogar ein Wort erfunden: Truthahn-Fehlschluss. Sie wissen also, dass sie so dumm sind wie Vögel, die sich mästen lassen ohne zu glauben, dass sie am Ende gegessen werden, aber sie tun nichts dagegen. Nichts."

"Sie warten ab, bis sie in der Pfanne landen."

"In die Pfanne gehauen werden, würden sie selbst sagen."

"Wenn sie es verstehen könnten."

"Auch uns haben sie nichts geglaubt. Hätten sie nichts geglaubt, wenn nicht das Mädchen und die ganzen jungen Menschen in der Welt ..."

"Und dann war es schon wieder vorbei, dabei hatte die Bewegung noch nicht mal richtig angefangen. Jetzt gilt wieder nur das Diktat des kurzfristigen Wohlstands, ohne Rücksicht auf die Langfristigkeit."

"Ohne Rücksicht auf die Pfanne, in die sie sich selbst hauen."

"Und warum? Weil sie wieder mal Angst haben. Und sich daran festhalten, dass Wohlstand sie schützt."

"Dabei sind es doch die wenigsten, die im Wohlstand leben!"

"Aber für die ist es leicht, die anderen zu vergessen."

Sie seufzte tief. "Vergessen. Müssen wir sie jetzt. Wir können nichts mehr tun."

"Wir werden heimgerufen. Also los."

Er fasste ihre Hand fester.

"Auf drei. Eins, zwei, drei ..."

Sie sprangen ab, breiteten Arme und Beine aus und flogen über den Rand des Dachs. Ein wenig nach unten fielen sie, dann hatte die Luftströmung sie erfasst und sie schwebten hoch hinaus, höher und höher in Richtung der Wolken. Als sie die erste erreicht hatten, schmiegten sie sich hinein und verschmolzen mit ihr.

Ein paar Passanten auf der Straße hatten die Gestalten auf dem Dach gesehen und waren erschrocken stehen geblieben, wiesen einander darauf hin. Als sie absprangen, zog einer sein Telefon aus der Tasche, unschlüssig, ob er filmen oder 112 wählen sollte. Aber gegen alle Erwartung waren die Gestalten nicht auf dem Erdboden aufgeschlagen, sondern in die Höhe geflogen.

"Das ... das gibt's doch gar nicht", keuchte der mit dem Telefon.

"Nein", meinte sein Begleiter, "das gibt es wirklich nicht. Muss eine optische Täuschung gewesen sein."

Und sie gingen ihrer Wege.

© Brigitte Hutt 2020

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