Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Karneval

Feierabend

Auf einer kunsthistorischen Reise nach Venedig erzählte uns die kundige Reiseleiterin viel von der Geschichte der Stadt, die einst über das Mittelmeer und die europäische Kaufmannschaft regierte und deren Herrschaft sich dann allmählich auflöste, abgelöst wurde. Ihre Macht, ihre Mittel verloren an Gewicht, und irgendwann war es nur noch eine Frage der Zeit, wann sie völlig in Bedeutungslosigkeit versank. Was aber tat die an Luxus gewöhnte (führende) Gesellschaft der Stadt? Sie ignorierte den Verfall nach Kräften, und vor allem: Sie dehnte den Karneval, die in Venedig üppig begangenen Tage vor dem Aschermittwoch, immer mehr aus, betäubte sich mit Feiern. "Jedes Jahr sieben Monate Karneval", so charakterisierte unsere Reiseleiterin das "Settecento", das siebzehnte Jahrhundert, in dem der Verfall der venezianischen Macht nicht mehr zu ignorieren war. Aufstieg und Fall einer kleinen Stadt in Oberitalien.

Machen wir einen Sprung in die Gegenwart. Ein kleiner Erdteil auf der Nordhalbkugel unseres Planeten, einst mit Macht, Geld und Waffen unterwegs, um die Welt zu "kolonialisieren", um möglichst allen Ländern und deren Völkern das zu bringen, was die Europäer für die einzig richtige Kultur hielten, steht vor den Ergebnissen dieser Politik. Der Luxus der Länder auf der Nordhalbkugel basiert auf der Ausbeutung derjenigen, die einst Kolonien waren, die jetzt als "Entwicklungsländer" gelten, als Länder, die (noch immer) nicht so sind, wie die Europäer es ihnen schon so lange beizubringen suchten. Aber wären sie es, wir - und das ist inzwischen mehr als Europa, das sind vor allem auch die USA, aus Europäern erwachsen - könnten sie nicht länger ausbeuten. Gäbe es die "unterentwickelten" Länder nicht, wir könnten unsere Macht, unsere Vorstellung von Globalisierung, unseren Standard, ja, unseren Luxus nicht halten. Sie sind das notwendige Gegengewicht. Aber sie sind viele, und sie bedrängen uns. Mehr und mehr.

Was tut nun die (führende) Gesellschaft der "entwickelten" Länder? Sie ignoriert die Folgen ihres Tuns nach Kräften, und vor allem: sie feiert. Wobei "Feiern" für tanzen, trinken, Denken abschalten steht. Karneval eben. Sieben Monate. Oder mehr? Urlaub wie oft im Jahr? Feiertage schaffen zusätzlich lange Wochenenden. Von Tourismus leben Branchen. Also wir.

Reisefreiheit hat oberste Priorität (so Egon Krenz, kurz bevor sein Staat, die DDR, zusammenbrach), sie ist die moderne Variante des altrömischen "Brot und Spiele". Reisefreiheit - allerdings nur in eine Richtung, von den reichen Ländern in die Welt, nicht etwa umgekehrt. Zu uns darf keiner kommen und ebenfalls Freiheit fordern. Aus Krieg und Not Flüchtende werden an immer weiter hinausgeschobenen Grenzen erbarmungslos zurückgedrängt, mit Gefahr für Leib und Leben (der Flüchtenden natürlich). Dass sie aus Situationen flüchten, die die von uns geschaffene Globalisierung erst ermöglicht hat, ignorieren wir. Wir spenden und hoffen, dass damit alles gut wird.

Machen wir noch einmal einen Sprung ins "Settecento", ein Jahrhundert, das Europa noch viel mehr Umbrüche einbrachte als nur den (allmählichen) Untergang Venedigs: Die damaligen Gesellschaften hatten die Mehrheit der Menschen in ihren Ländern so lange und so gezielt in Armut gehalten, dass diese keinen anderen Ausweg sahen als Revolution. Ihre Verzweiflung brach sich 1789 mit dem Sturm auf die Bastille Bahn, denn allzu viele waren sich sicher, dass es schlimmer als bisher auch nicht kommen konnte.

Zum Vergleich die Gegenwart -- was fühlen die Menschen, die zu uns flüchten? Wer verlässt seine Heimat, seine vertraute Umgebung, Sprache, Mitmenschen, Traditionen ohne Druck, ohne Verzweiflung?

Wann sind es so viele, dass sie die Bastille unserer Grenzen stürmen, komme, was wolle? Was wird dann aus unseren Feiern? Dann ist -- Feierabend.



© Brigitte Hutt 2020

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