Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Brücke in Berlin

Fliegen

"Angeklagte. Sie werden beschuldigt, verkehrsgefährdend Steine von der Rigersdorfer Brücke auf die darunter verlaufende Autobahn geworfen zu haben. Möchten Sie sich dazu äußern?"

"Herr Vorsitzender, es waren keine Steine. Wie ich schon den Polizisten ..."

"Entschuldigung, natürlich muss es heißen: Gegenstände auf die Autobahn geworfen zu haben. Bauer, wieso ist da meine Vorlage nicht korrekt? So geht es nicht."

Der Richter wechselt einige leise Worte mit seinem Beisitzer rechts.

"Also, Angeklagte. Möchten Sie sich dazu äußern?"

"Herr Vorsitzender, es war Papier."

"Wie bitte?"

"Es waren Papierkügelchen."

"Nun, auch das Werfen von Papierkügelchen fällt unter den Tatbestand, Gegenstände geworfen zu haben. Und möglicherweise haben Sie sie ja beschwert? Damit sie besser fliegen?"

"Papierkügelchen fliegen ganz wunderbar, Herr Vorsitzender. Haben Sie das schon mal ausprobiert?"

"Ähm, zur Sache. Bekennen Sie sich schuldig?"

"Aber ja. Das heißt, ich bekenne mich schuldig, falls das eine Schuld ist, Papierkügelchen von der Rigersorfer Brücke geworfen zu haben."

"Was eine Verkehrsgefährdung darstellt."

"Aber Herr Vorsitzender, das waren wirklich reine Papierkügelchen! Wen gefährde ich denn damit? Ein Brummer, der auf die Windschutzscheibe prallt, ist eine größere Gefährdung."

"Sie haben die Fahrer irritiert, die ja nicht erkennen konnten, was Sie werfen."

"Nun ja, es war ja auch eher ein Fliegen lassen als ein Werfen."

"Was also genau?"

"Ich hab Papierkügelchen von der Brücke fliegen lassen. Das sieht geradezu wunderschön aus."

"Die Autofahrer fanden es nicht nur nicht wunderschön, es hat sie irritiert und gestört und beängstigt."

"Papierkügelchen?"

"Herrgott ... Pardon. Die Autofahrer haben nur gesehen, dass da Dinge, Gegenstände, von der Brücke geworfen wurden."

"Dazu müssen sie zunächst mal hinaufgeschaut haben. Sonst hätte es ja auch nur … was weiß ich? Laub sein können! Oder Staub. Und warum schauen sie hinauf statt auf die Straße?"

"Das tut nichts zur Sache. Sie haben sich soeben schuldig bekannt im Sinne der Anklage."

"Herr Vorsitzender?"

"Ja, bitte?"

"Haben Sie sich mal eines dieser Papierkügelchen angeschaut?"

Der Richter greift vor sich auf den Tisch, wo ein Tablett mit mehreren Gegenständen liegt.

"Hier. Dies ist eines davon, nicht wahr?"

Er hält ein graues, unansehnliches kleines Gebilde hoch.

"Ja! Ja, das ist eines meiner Kügelchen. Ich dachte schon, niemand hat eines aufgehoben."

"Angeklagte, Sie können sich sicher sein, dass unsere Beamten sorgfältig arbeiten und Beweisstücke nicht verloren gehen. Und ...", er hält einen kleinen Stein hoch, "hiermit haben Sie Ihre Kügelchen beschwert, ist es nicht so?"

"Aber nein. Ich habe Ihnen doch schon erklärt, dass es geradezu wunderschön ist, reine Papierkügelchen von der Brücke fliegen zu lassen."

"Angeklagte, es geht hier nicht um Schönheit, sondern um Verkehrsgefährdung. Auch, wenn Sie Heidi Klum nackt an die Autobahn stellen, ist es Gefährdung, egal, wie schön sie ist."

Die Angeklagte stößt eine Art Schnauben aus. "Herr Vorsitzender, finden Sie die tatsächlich schön?"

Der Vorsitzende schaut hilfesuchend nach allen Seiten, dann wieder streng zur Angeklagten.

"Angeklagte, zur Sache. Wir haben wunschgemäß eines Ihrer Kügelchen angeschaut. Nun?"

"Nein, haben Sie nicht. Streichen Sie es glatt!"

Der Richter hebt erneut ein Kügelchen hoch, diesmal mit spitzen Fingern und gerunzelter Stirn.

"Angeklagte. Ich bin ein geduldiger Mensch. Das merken Sie selbst. Doch was soll das jetzt?"

"Streichen Sie es glatt! Bitte."

Der Richter reicht das Kügelchen seiner Beisitzerin links, die es mit hochgezogenen Augenbrauen entgegennimmt und vorsichtig auf dem Richtertisch glatt streicht.

"Und nun?"

"Und nun lesen Sie!"

Vorsitzender und Beisitzerin beugen sich über das Papier, lesen, wechseln einen Blick, dann nimmt die Beisitzerin ein weiteres Kügelchen vom Tablett und streicht es ebenfalls glatt. Wieder lesen sie, dann nimmt der Richter das dritte und letzte Kügelchen und streicht es vorsichtig glatt.

"Nun? Sehen Sie?"

Vorsitzender und Beisitzerin schauen die Angeklagte an. Sie schweigen.

Die Angeklagte bittet: "Lesen Sie doch vor!"

Der Richter nickt der Beisitzerin zu. Diese schiebt die Papierstückchen weiter zur Protokollantin. Die blickt eher ungläubig vom einen zur anderen, dann nimmt sie ein Papier, liest und räuspert sich.

"Ja, bitte", ermuntert der Vorsitzende sie.

Die Protokollantin räuspert sich erneut. Dann liest sie.

"Fahr vorsichtig."

Die Angeklagte nickt und sagt freudestrahlend: "Weiter! Die anderen!"

Die Protokollantin liest.

"Komm gut heim. - Du wirst gebraucht."

Sie legt die Papierchen zurück auf den Richtertisch und schaut fragend zum Vorsitzenden. Dieser schaut ebenfalls fragend, aber hinüber zu dem Polizisten, der in dieser Sache ermittelt hat. Der zuckt die Achseln.

"Nie hineingeschaut?"

Der Polizist schüttelt den Kopf.

"Und die Steine, mit denen sie die Würfe beschwert hat?"

Der Polizist hebt die Schultern und stottert: "Die ... ähm ... wir ... das lag ja nah ... die ...

"... haben Sie nicht eindeutig nachweisen können?"

Der Polizist schüttelt den Kopf.

Der Vorsitzende schaut die Angeklagte prüfend an.

"Nicht mehr als ein Brummer auf der Wundschutzscheibe, eher weniger. Deutlich weniger."

Der Vorsitzende schüttelt den Kopf.

"Der Tatbestand ...", er verstummt. Nach einer Weile fügt er hinzu: "Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück."


© Brigitte Hutt 2020

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