Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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lost in a game world

Game World

Verflixt, die Kolleginnen kamen vom Rauchen zurück, die Pause war schon zu Ende. Paula klickte schnell noch ein paarmal, stieß dann ein sehr leises "Ja!" aus und ließ das Bildschirmfenster, in dem sie gespielt hatte, im Hintergrund verschwinden. Level 109, wenigstens. Ihr schärfster Konkurrent, der, mit dem sie ihr heimliches "ich bin besser, schau mal"-Spiel trieb, war auf Level 111, und es blieben ihr nur noch zwei Tage, ihn zu überholen, dann wurde die Wertung aufgestellt. Er nannte sich Smoothie9, aber er war alles andere als smooth, er war einfach scharf. Sie liebte seine Spielzüge, sie liebte auch die Chats, die sie manchmal mit ihm hatte. Wie gern hätte sie ihn mal kennengelernt! Aber das Spiel wahrte die Anonymität, das war ein Grundprinzip. Gerade studierte sie die E-Mails, die heute noch abzuarbeiten waren, da kam der typische Piepser aus dem Spielefenster: ein Chatbeitrag.

  > he, biene14, schwächelst du?

Natürlich, Smoothie9 musste mal wieder sticheln.

  > hi, mein freund, manche menschen müssen was arbeiten!

  > na, was denkst du, was ich mache?

  > den ganzen tag spielen?

Es kam keine Antwort mehr. Sie erledigte ein paar Aufträge und ein paar Telefonate, dann schaute sie noch einmal ungeduldig in den Chat. Nichts. Zumindest nichts von ihm.

"Was machst denn du da?"

Sie fuhr zusammen. Wie lange hatte Svenja da schon gestanden? Ausgerechnet Svenja, dieser Trampel. Die war imstande und schwärzte eine Kollegin an.

"Ich warte gerade auf einen Rückruf, was dagegen? Soll ich da Däumchen drehen?"

Svenja lachte und ging zu ihrem Schreibtisch. Paula schaute ihr wütend nach. Alles an Svenja war rund und irgendwie glitschig. Nein, diese Kollegin mochte sie nicht. Da meldete sich das Telefon, und Paula konzentrierte sich auf die Arbeit.

Ab fünf Uhr leerte sich das Büro. Svenja ging als erste, eilig, als ob sie eine Verabredung hätte. Rudi Beetz kam aus dem Nachbarbüro und rief ein allgemeines Tschüss in den Raum. Sein Kollege, seines Zeichens Paulas fachlicher Vorgesetzter, schien noch da zu sein, sie hörte ihn telefonieren, als Beetz durch die Tür kam.

Als alle anderen den Raum verlassen hatten, lehnte Paula sich zurück und träumte ein bisschen. Smoothie9. Wie er wohl aussah? Sie prüfte den Chat. Nur Lysi und Charlemagne hatten sich gemeldet. Sie antwortete beiden kurz. Das war keine Konkurrenz, derzeit Level 98 und 101.

Telefon. Laura vom Empfang. "Hi, Paula. Auch noch da? Du, hast du gesehen, wie die Svenja abgegangen ist? Die sah aus, als hätte sie noch ein Date!"

Paula lachte, und eine Weile hechelten sie Kolleginnen und Kollegen durch. Dann kam wohl jemand zum Empfang, und Laura legte auf.

Paula überlegte kurz. Eigentlich hatte sie ihr Pensum für heute geschafft, also konnte sie doch noch ein bisschen spielen? Der Betrieb legte Wert auf die Ergebnisse und ließ den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern frei Wahl, wie sie ihre Arbeit einteilten. Auch private Internetnutzung war nicht verboten, nur bei Pornoseiten musste man sich zurückhalten. Da hatte es schon mal eine Abmahnung gegeben. Paula fragte sich, wie sie das herausgekriegt hatten, ob der Sysadmin regelmäßig die Browser-Verläufe der Belegschaft prüfte?

Oh, es war ja eine sie, die Sysadmin. Man sah sie so selten, dass sie noch nicht wirklich im Bewusstsein, zumindest in Paulas Bewusstsein, angekommen war. Sie hieß dazu noch Kim, das war so ein blödsinnig geschlechtsneutraler Name. Kim Sommer.

Sommer, Smoothie - wer sagte denn eigentlich, dass Smoothie9 ein Mann war? Niemand außer Paulas Bauchgefühl. Wenn es nun eine Frau war, die sich hinter diesem Namen versteckte, womöglich so eine runde, glitschige wie ... wie Svenja? Immerhin hatte er (oder sie) sich nicht gewehrt, als Paula neulich mal "typisch mann" in den Chat geschrieben hatte. Nein, das musste einfach ein Mann sein.

Paula maximierte das Spielefenster und vertiefte sich. Das 110. Level schaffte sie fast im Flug und triumphierte. Smoothie9 hatte inzwischen wohl nicht gespielt, also war sie ihm ganz nah gekommen.

Telefon. "Frau Flick, könnten Sie mal kurz zu mir rüberkommen?"

Jetzt noch zum Chef? Sozusagen nach Feierabend? Egal, so konnte sie sich ein wenig profilieren. Voller Triumphgefühl summte sie die Erkennungsmelodie des Spiels und öffnete die Tür zum Nachbarbüro.

"Was kann ich für Sie tun?"

"Wir haben diese Verträge vorbereitet." Er reichte ihr eine Mappe. "Wär schön, wenn Sie die bis Morgen Mittag prüfen könnten. Geht das?"

Sie warf einen kurzen Blick in die Mappe, las ein paar Zeilen und nickte.

"Was summen Sie denn da?"

Erschrocken biss sie sich auf die Lippen und schaute auf. "Ein ... eine ... Melodie."

Er lachte. "Unüberhörbar. Bisschen monoton vielleicht."

"Nein, ja, das ist ein Jingle, also eine Erkennungsmelodie." Gott, was sollte sie denn sagen und ... was besser nicht?

"Fernsehen?"

"Nein, nein, Internet. Game. Mit anderen. Also weltweiter Austausch. Kulturaustausch."

Klang das nun gut oder eher verrückt? Jedenfalls lächelte er freundlich. Aber er ließ nicht locker.

"Das heißt, Sie spielen mit oder gegen Menschen aus aller Welt?"

"Na ja, nicht ganz. Also dieses Spiel ist deutschsprachig, da kommen die Gamer nicht aus allzu vielen Ländern. Aber es gibt eine englische Version, die wird irre frequentiert. Ist aber anstrengender, daher spiele ich die deutsche."

Was rede ich denn da?

"Gamer? Heißt das nicht Gambler?"

"Das sind Glücksspieler. Computerspieler nennen sich Gamer."

Nun war er es, der anfing zu summen. Dabei klickte er irgendwas auf seinem Bildschirm an, wodurch der Drucker anfing zu brummen. Sie runzelte die Stirn und starrte ihn irritiert an, dann erkannte sie das Lied, das er summte: House oft he rising sun. Spontan sang sie mit:

"My father was a gamblin' man down in New Orleans".

Er schaute sie an und lachte. "Da schau her, haben wir was gemeinsam."

Gemeinsam? Was meinte er? Alte amerikanische Lieder?

Er stand auf und zog ein Dokument aus dem Drucker. Dann kam er zu ihr und schob es als unterstes in die Mappe mit den Verträgen.

"Schönen Feierabend!"

Sie war entlassen. Immer noch irritiert, verließ sie sein Zimmer und plumpste auf ihren Schreibtischstuhl. Verflixt, der Typ war einfach ...

Sie holte tief Luft und beschloss, die Verträge noch kurz durchzusehen, um sich die Arbeit für den nächsten Tag einteilen zu können. Die obersten beiden waren einfach, der dritte betraf einen Sonderfall. Da würde sie Zeit brauchen. Und dann noch dieses letzte Blatt, das er hinzugefügt hatte. Sie zog es hervor und starrte es verständnislos an. Es war kein Vertrag. Es war ein Dialog. Ein ... Chatverlauf. Ein Chatverlauf?

Das leise Klicken der Bürotüren überhörte sie. Sie starrte auf das Papier. Da unterhielten sich Smoothie9 und Biene14. Unterhielten sich in einem privaten Chatraum, und es kam einem Flirten sehr nahe, sehr, sehr nahe. Oh Gott. Nein. Smoothie9 ... und Paula. Der Chef ... und Paula. Sie hob den Kopf. Alles ruhig. Das Büro war leer, die Tür zum Nachbarbüro stand ein wenig offen. Sie war allein, niemand sah ihren knallroten Kopf.

© Brigitte Hutt 2025

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