Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Georg, der Retter

Wären wir das nicht alle gern, Retter der Schwachen? Aber - nicht allein, dass wir selten Gelegenheit dazu haben (oder eine solche nicht wahrnehmen) - der Einsatz lohnt sich eigentlich nur, wenn es auch eine Aussicht auf Erfolg gibt. Und das ist in der Regel nicht absehbar. Die Legende vom Heiligen Georg, oft erzählt und daher in vielen Varianten überliefert, geht (unter Auslassung jeglicher Ortsbestimmung) ungefähr so:

Es lebte ein wilder Drache, der Kinder, vor allem junge Mädchen, tötete. Die Schwachen im Lande. Eines Tages verlangte der Drache die Tochter des Königs. Wie er dieses Verlangen kundtat, ist nicht überliefert. Der König, so heißt es, widersetzte sich dem und bot sein gesamtes Hab und Gut im Tausch gegen das Leben seiner Tochter an. Aber das Volk hatte Angst - um sich - und verlangte, dass der König die Tochter ausliefere. So stimmte er zu und ließ seine Tochter außerhalb der Stadtmauern für den Drachen zurück. Genau da kam Georg, ein Ritter, also ein reisender und reitender Abenteurer, auf einem weißen Pferd vorbei und fragte die sicher vor Angst zitternde junge Frau, ob er ihr helfen könne. Sie erzählte, was ihr bevorstand. Darauf zog Georg sein Schwert und stellte sich, hoch zu Ross, dem Ungeheuer. In einem - die Überlieferung sagt: erbitterten - Kampf besiegte er den Drachen.

Diese Geschichte ist in der Kunst unzählige Male in Bild und Skulptur umgesetzt worden. Der Drache, dessen Aussehen ja niemand bezeugen kann, nimmt dabei beliebige Formen an. Interessant ist, wie oft er eine eher zarte, unauffällige Schlange oder Echse ist. Georg dagegen ist ein geharnischter Ritter auf einem stolzen und temperamentvollen Pferd. Allein schon der Gegensatz zwischen Pferd und Reiter auf der einen und dem Wurm auf der anderen Seite nimmt den Ausgang der Geschichte vorweg. Oder, anders ausgedrückt: Georg musste keine Angst haben, der Sieg lag auf der Hand.

Inspiriert durch die Kunst, vor allem durch Gemälde von Wassily Kandinsky, sehe ich die Geschichte dieses Kampfes folgendermaßen.

Der Ritter spornt sein Pferd an, reitet zu der Höhle, in der mutmaßlich oder nach Aussagen des Volkes - es traut sich ja niemand näher heran - der Drache lebt. Dort zügelt er sein Pferd heftig, so dass es sich aufbäumt und kaum zu bremsen ist. Furchterregend sieht er aus, und er weiß das.

"Drache", ruft er mit mächtiger Stimme, "komm heraus, nimm den Kampf auf!"

Nach einer Weile schlängelt sich eine zwar recht lange, aber eher schmale Gestalt - Schlange? Echse? - aus einem Loch. Sie stößt schnaubende Geräusche aus. Georg, kampfeslustig wie er ist, sieht bei diesen Geräuschen Feuer aus den Nüstern des Tieres züngeln.

"Drache", ruft er erneut, wild und unzähmbar, und schwingt sein Schwert, "stell dich mir!"

"Tu mir nichts", lässt sich da eine dünne Stimme hören. Ist es der Drache? Verbirgt sich jemand hinter einem Felsen und spricht? Oder ist es eine Stimme in Georg, die Stimme seines Gewissens angesichts des erstaunlich unauffälligen Tiers? Egal, Georg hört sie. Und er reagiert.

"Du bist schuld an der Angst eines ganzen Volkes, an der Angst eines schönen Mädchens! Dies soll folglich deine letzte Stunde sein."

Und wieder schwingt er sein Schwert, dass die Luft nur so rauscht. Und wieder hört er eine Stimme.

"Tu mir nichts. Schau mich doch an! Mache ich jemandem Angst?"

Georg weiß keine Antwort. Aber er hört noch mehr.

"Die Menschen haben Angst vor vielem, vor allem vor Dingen, die sie nicht verstehen. Dafür haben sie sich das Bild des Drachen gewählt, der ihre Furcht oder Angst erklären soll. Und nie kommen sie und schauen mich an. Denn dann könnten sie ihre Angst nicht mehr begründen."

"Und die vielen Kinder, die schon deine Opfer wurden? Erzähl mir doch keinen Unsinn!"

"Ob du es glaubst oder nicht: An diesen Opfern sind die Menschen selbst schuld. Kinder laufen weg, wenn sie unglücklich sind. Und Kinder werden durch Menschenhand unglücklich, mitunter auch Schlimmeres. Um einander zu schaden, brauchen sie keinen Drachen."

Georg weiß wieder keine Antwort. Was soll er nun tun? Der Wurm erbarmt ihn, das Mädchen erbarmt ihn, das Volk erbarmt ihn. Und noch etwas geht ihm durch den Kopf: Wenn er nun ein Held, ein Volksbefreier wäre, dann könnte er sich Belohnungen erbitten, wäre ein gemachter Mann. Würde unsterblich, eine Legende. Stumm stehen sich Pferd, Reiter und Drache gegenüber. Da beginnt der Drache, sich langsam in seine Höhle zurückzuziehen.

"Ha! Willst du dich drücken! So nicht, nicht mit mir!"

Und Georg gibt seinem Pferd die Sporen, reitet auf den Drachen zu, stößt mit dem Schwert zu, stößt und stößt, bis das Tier und die Stimme, woher auch immer sie gekommen sein mag, nicht mehr sind.

Wie mag es mit den Menschen dieser Geschichte weitergegangen sein? Wurden sie glücklich, lebten sie fortan ohne Angst? So lautet der übliche Schluss eines Märchens, aber das ist das genaue Gegenteil des realen Lebens. Nein, wir können sicher sein, dass die Menschen neue Gefahren sahen, neue Feindbilder aufbauten, denn sonst hätten sie sich sehr haltlos gefühlt. Ohne Feindbild kein Wir-Gefühl. Georg aber, der wurde unsterblich, wurde Legende.

Nach seinem unausbleiblichen irdischen Ende hatte er davon allerdings auch nichts mehr.



Brigitte Hutt 2023

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