Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Was lauert in der Kiste?

Gewitter

Sie ließ sich erschöpft aufs Bett fallen. Zum Duschen hatte sie nicht mehr die Kraft. Die Schwüle war stärker als alles. Die Wände ihres Ein-Zimmer-Apartments drohten ihr immer näher zu rücken, sie zu erdrücken, zu erschlagen. Heute war es ihr zu eng, viel zu eng, mit allen diesen Sachen um sie herum, all ihren Heiligtümer, wie kindisch und überflüssig sie ihr heute vorkamen! Die Blumen am Fenster, die Fotos an der Wand, die Muscheln in der Kiste unten im Regal. Die sollte sie dringend mal ausmisten, oder besser, entsorgen.

Sie richtete sich ein wenig auf und sah hinüber zum Regal. Zwei Kisten unten, eine mit Wolle, die andere mit Muscheln und Steinchen von den Urlaubsreisen. Wozu das alles? Sie kniff die Augen zusammen. Was bewegte sich denn da? Quatsch, jetzt sah sie schon Gespenster.

Durch das offene Fenster hörte sie ein Donnergrollen, noch recht fern. Sollte sie aufstehen und das Fenster schließen? Ach, das hatte noch Zeit. Moment, da bewegte sich doch etwas, da unten am Regal! Nur jetzt nicht aufstehen müssen. Sie schloss kurz die Augen und holte tief Luft. Dann richtete sie sich mit einem tiefen Seufzer auf und fixierte den Griffspalt in der Wollkiste. Dahinter war gelbe und schwarze Wolle sichtbar, wie seit langem, aber ...

Sie rieb sich die Augen. Etwas schlängelte sich hervor. Etwas schlängelte sich hervor? Sie kniff sich in den Arm, wollte sich kneifen, saß auf dem Bett wie gelähmt. Ein Arm. Ein klitzekleiner Arm. Oder ein Bein? Nun ein Kopf und noch ein Arm, oder noch ein Bein. Dann kam eine winzige Eidechse zum Vorschein, schien sich kurz umzublicken, lief an der Kiste herunter und huschte unter die Heizung.

Sie kniff die Augen zusammen und riss sie dann weit auf. Nichts mehr. War nur Einbildung in der Schwüle, was sonst. Ein Blitz zuckte durch den Himmel, zeigte, wie dämmerig es schon war, warf Licht auf das Regal, auf die Kisten mit den Griffspalten. Ein Arm, eine Vorderpfote, ein winziger Kopf ... schon wieder ...

Aufstehen, kommandierte sie sich. Aber die Muskeln gehorchten ihr nicht. Sie stützte die schweißnassen Hände rechts und links neben sich auf die Matratze, doch sie rutschten ab.

Wieder ein Blitz, dann ein scharfer Donnerknall, so dass sie zusammenzuckte. Etwas huschte über den Fußboden. Panisch schaute sie von Kiste zu Kiste. Jetzt bewegte sich etwas im Spalt der anderen, der Muschelkiste. Das war kein Arm. Das war … eher ... ein Wurm ...

Sie sprang auf und zum Regal, schloss die Augen, riss blindlings die Kiste aus ihrem Fach, war mit einem Schritt am Fenster und warf sie weit hinaus. Die Wollkiste warf sie gleich hinterher. Dann stand sie schwer atmend am Fenster und lauschte. Wind rauschte, oder war das jetzt Regen? Donner grollte, jetzt wieder ferner, aber von unten, vier Stockwerke tiefer, war nichts zu hören. Vermutlich waren bei dem Wetter keine Passanten mehr unterwegs. Jedenfalls hoffte sie das.

Erneut ein Blitz, dann ein Donner, ein weiterer Blitz, sie schaute sich in seinem Licht im Zimmer um. Etwas huschte über den Fußboden. Sie schrie auf in Panik, schrie und schrie. Es donnerte und sie schrie. Es donnerte, ganz nah, und zugleich klingelte es.

"Frau Schwarz, machen Sie doch auf! Ist alles in Ordnung bei Ihnen?"

Sie zuckte zusammen, rieb sich die Augen. Das war die Stimme ihres Nachbarn, dumpf vor der Wohnungstür. Sie blickte verwirrt im Zimmer umher, rief mit zitternder Stimme: "Ich komme gleich!", sah den Regen, der durch das offene Fenster auf den Fußboden fiel, sah ... das Regal mit den unberührten Kisten unten, und sie erhob sich stöhnend vom Bett.



Brigitte Hutt, Gewitterabend im Juni 2023

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