Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Barcelona, Kirche Sagrada Familia, 2018

Heilige Familie

Was für ein Gewimmel. Seit vielen Jahren meide ich das Oktoberfest, um nicht in eine solche Menschenmasse zu geraten. Und nun das.

Menschen staunen und starren mit offenen Mündern. Wenn sie sich selbst so sehen könnten!

Gruppen finden sich und verlieren sich wieder. Reiseleiter versuchen sich verständlich zu machen, weisen auf Details in der Mauergestaltung hin, weisen hinauf zu den Türmen, die noch immer nicht vollständig sind.

Kameras recken sich, klicken, recken sich, klicken.

Neben mir ein Kind, ein kleines Mädchen, ängstlich verzerrtes Gesicht. Das überdimensionale Bauwerk kann auch Angst einjagen. Düster die Mauern; für den Innenraum ist viel Licht versprochen, aber das ist hier draußen eben nichts als ein Versprechen. Gestenreich wird Architektur erklärt. Das Stirnrunzeln einiger Touristen wird von den verklärten Gesichtern der Reiseleiterinnen und leiter aufgewogen.

Taschenmesser werden eingesammelt. Was kann man mit denen im Gebäude Schlimmes anstellen? Verletzen, verkratzen, gar zerstören? Kaum vorstellbar.

Wieder nähert sich eine Gruppe dem Einlass, Gesichter werden erwartungsvoll, strahlen bei der Nahansicht der Tore.

Das Mädchen neben mir hat die Hände zu seiner Mutter hinaufgestreckt, bittend, hilflos. Der Vater erklärt etwas, die Mutter lauscht. Sie wird angerempelt, stößt ihrerseits das Kind, das zu weinen beginnt. Darauf reagiert sie, nimmt es auf ihre Arme, weist auf die Mauern, die Türme, die Verzierungen, die Eingangstore.

Eine Frau schüttelt den Kopf, ihr Begleiter redet auf sie ein, den Reiseführer in der Hand. Wolken verdecken die Sonne, die Mauern werden noch düsterer.

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Millionen sollen es sein, die hier täglich vorbeikommen. Mittels Handy-Ortung werden sie gezählt. Öffner der Kirchentüren, so wird der Baumeister posthum genannt. Zu Lebzeiten erntete er eher Kritik, war sein Konzept nur bedingt nachvollziehbar.

Das Kind schmiegt sein Gesicht an den Hals der Mutter. Nachdenklich sieht sie den Vater an, der dem älteren Jungen noch immer etwas erklärt. Vater und Sohn lachen, Mutter und Tochter treten einen Schritt zurück. Die Mutter flüstert dem Mädchen etwas ins Ohr, das daraufhin den Blick zögernd wieder auf das Bauwerk richtet, aber nur ganz kurz. Mutters Körperwärme scheint ihm wohl sicherer.

Verrückt, sagt eine Stimme hinter mir.

Hast du schon den Park Güell gesehen?, fragt eine Stimme vor mir.

Disneyland, ruft jemand.

Unglaublich, flüstert eine andere Stimme. Wahnsinn. Diese Größe.

Jahrhundertbau, ruft eine Reiseleiterin, ein Kollege das gleiche in Englisch.

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Die Mutter mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm kommt auf mich zu. Ich lächele sie an, sie lächelt zurück, traurig, drückt ihr Kind an sich, verlässt den Platz. Der Vater folgt in einigen Schritten Abstand, kopfschüttelnd, stirnrunzelnd. Der Junge an seiner Seite hüpft und wirft keinen Blick zurück.



Barcelona, Kirche Sagrada Familia. Brigitte Hutt 2020

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