Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Ente im Juni

Juni

Leni ließ sich seufzend auf die Parkbank sinken. Nicht, dass sie schon erschöpft gewesen wäre von ihrem Spaziergang, aber es fehlte ihr einfach die Lust. Das Wetter war schön, wie es sich für Juni gehörte, die Enten schwammen friedlich umher, Kinder jagten einander, alles war idyllisch. Nur die Lust fehlte.

Sie hatte sich, als sie in den Ruhestand befördert worden war, diese täglichen Spaziergänge und Wanderungen auferlegt, damit sie nicht einrostete und nur noch die Wände anstarrte, oder gar das Fernsehgerät als einzigen Lebensgefährten nutzte, und sie hatte sich fest vorgenommen, auch bei schlechtem Wetter hinauszugehen. Erstaunlicherweise fiel es ihr aber bei so schönem Wetter wie heute schwerer. Bei Regen und Wind kämpfte sie sich durch, Kälte war eine Herausforderung, mit der sie umzugehen wusste, aber schönes Wetter war einfach nur lästig.

Sie sah sich um. Dort drüben, neben der Weide, ein Pärchen, in sich versunken. Die Schwäne führten ihre Jungen aus, der Vater - oder war es die Mutter? - verjagte alle Enten, die auch nur auf fünf Meter heranschwammen. Kinder spielten zu zweit, zu dritt. Es war einfach unübersehbar, dass bei gutem Wetter das Alleinsein drückender wurde. Und nun kamen da noch diese zwei Herren auf ihre Parkbank zu. Der ältere der beiden, der schwer an zwei Stöcken ging, schaute Leni direkt an.

"Entschuldigung, die Dame", sagte er in breiter kölnischer Klangfärbung, "ob ich mich einen Moment setzen darf? Die Beine wollen nicht mehr."

Leni sah nach rechts und links, sah, dass die nächsten Bänke durchaus ein gutes Stück Weges entfernt waren, rückte etwas zur Seite und antwortete höflich: "Sicher, gern." Dann schaute sie wieder aufmerksam auf den See hinaus und hoffte, dass dieses Signal eindeutig war.

Der alte Mann, deutlich älter als sie, atmete auf, der jüngere, sicher höchstens fünfzig, blieb vor der Bank stehen und lächelte abwechselnd Leni und seinen Begleiter an.

"Jib et zu, Vatter", sagte er, "du willst ja nur mit der Dame flirten!"

Der alte Mann lachte. "Dat wäre fein. Aber ob se ihrerseits Lust hat auf 'n ollen Kerl wie mich?" Er schaute zu Leni, und sie fing ein breites, augenzwinkerndes Lächeln auf. Unwillkürlich erwiderte sie es.

"Sie kommen vom Rhein?", fragte sie höflich.

Die beiden nickten, und der ältere erwiderte: "Köln. Hört man gar nit, ne? Aber man sieht et!"

Leni war verwirrt. Der jüngere ergänzte: "Und man riecht es", und auf Lenis überraschten Blick fügte er hinzu: "Das ‚4711' haben wir immer dabei."

In das folgende Gelächter stimmte Leni schon entspannter ein. Der ältere Mann ließ das Gespräch nicht einschlafen und sagte: "Ich hoffe, dass wir Sie nit gestört haben? Sie gucken, als machten Sie grad Pläne, die Welt zu retten!"

Leni schüttelte den Kopf. "Das sollen jüngere tun", antwortete sie, "in meinem Alter reicht es dann mal."

"Wat denn, wat denn!" Der ältere Mann protestierte. "Sie kommen ja noch lang nit an mich heran!"

Leni musterte ihn kurz. Dann sagte sie spontan: "Ich hab immer gemeint, 72 Jahre reichen. Da bleiben mir jetzt noch fünf."

"Ha", machte ihr Nachbar. "Und wenn dann die 72 da sind, dann werden Se denken, 82 is auch janz schön."

"Meinen Sie?", fragte Leni leise und wunderte sich über sich selbst, dass sie dieses Thema einem Wildfremden gegenüber angeschnitten hatte.

Der jüngere Mann wechselte gemütlich das Standbein und fragte: "Kennen Sie die Geschichte von Adenauers 90. Geburtstag? Nein? Sie wissen ja, der war 'n kölsche Jung. Also, die Geschichte geht so. Alle kommen zum Gratulieren und finden schöne Worte. Der alte Adenauer nimmt die Gratulationen würdevoll entgegen. Schließlich steht da auch ein Kirchenmann vor ihm, ein Bischof vielleicht, und sagt zu ihm: ‚Möge Gott ihnen noch zehn weitere schöne Jahre schenken!' Adenauer runzelt die Stirn und entgegnet in empörtem Ton: ‚Junger Mann, wie kommen Se denn dazu, Jott in seiner unermesslichen Jüte dermaßen beschneiden zu wollen?'"

Alle drei lachen. Leni am lautesten. Wie schön ist das, denkt sie, dieses unerwartete Gespräch. Der alte Mann holt tief Luft, stemmt seine Gehstöcke fest auf den Boden und sagt im Aufstehen: "So, jetzt jeht et wieder." Dann dreht er sich zu Leni um, verbeugt sich und sagt: "Auf Wiedersehen, meine Dame. Und eine Woche nach Ihrem 82. Geburtstag treffen wir uns jenau an dieser Bank wieder!"

Dann dreht er sich um und stapft mit seinem Sohn davon.

Jetzt habe ich eine Verabredung, denkt Leni, und plötzlich freut sie sich über den schönen Junitag.



© Brigitte Hutt Juni 2019

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