Käse
"Und was bekommst du?"
"Käse", kam es sorgfältig formuliert aus dem Mund des Jungen, der nur knapp so groß war wie die Verkaufstheke hoch, und ein nicht ganz sauberer Finger deutete auf einen Laib in der Vitrine.
Die Verkäuferin hob den Käselaib auf ein Schneidebrett und fragte: "Wieviel?"
Dabei führte sie das Messer langsam über den Käse. Als der Junge begeistert nickte, schnitt sie durch, legte das Stück auf ein Papier und damit auf die Waage.
"Sechs Euro neunundvierzig", sagte sie und wickelte den Käse ein.
Der Junge schaute aufmerksam zu, die großen, dunklen Augen leuchteten. Als die Verkäuferin ihn abwartend anblickte, zog er einen Fünf-Euro-Schein aus der Tasche seines ihm etwas zu kleinen Anoraks und legte ihn auf die Theke.
Die Verkäuferin schüttelte den Kopf. "Sechs neunundvierzig", wiederholte sie, "das ist zu wenig."
Erschrocken schaute der Junge abwechselnd auf das Käsepäckchen, das Geld und die Verkäuferin.
"Sechs Euro", wiederholte die langsam und deutlich.
Der Junge zuckte mit den Schultern und blickte hilfesuchend zu den drei anderen Kunden. Alle Gesichter waren ernst, verschlossen.
Die Verkäuferin tippte auf das Display an der Waage, das den Preis anzeigte. Dem Jungen schien klarzuwerden, was sie damit sagen wollte. Wieder blickte er die anderen Kunden an, dann nahm er langsam den Geldschein wieder an sich, knetete ihn in den Händen, den Kopf gesenkt.
"Komischer Kauz", meinte eine der Kundinnen, eine ältere Frau, und der einzige Mann im Raum ergänzte: "Wenn er das Geld mal nicht geklaut hat."
"Wo kommst du überhaupt her?", fragte die Verkäuferin.
Der Junge reagierte nicht.
Die Kundin fragte: "Wo ist deine Mama? Und dein Papa?"
Der Kunde ergänzte: "Anne? Baba?"
Der Junge schaute auf und antwortete in einer Sprache, die keiner der Anwesenden verstand.
"Umm hat er gesagt", meinte der Mann. "Ich glaube, das ist Mutter auf Arabisch." Und zu dem Jungen gewandt: "Umm? Wo?" Dabei wies er zum Schaufenster hinaus.
Der Junge folgte mit seinem Blick. Dann legte er eine Wange auf seine Hände und schloss die Augen.
"Das kann eine Menge bedeuten", sagte der Mann verärgert.
"Oder gar nichts", ergänzte die Frau.
Der Junge nagte an seiner Unterlippe und sagte sehr leise: "Biite."
Eine Träne rollte ihm über die Wange.
Nun mischte sich die andere Kundin ein, eine Frau mit einem grünen Kopftuch und Augen fast so dunkel wie die des Jungen. Sie nahm dem Jungen den Geldschein aus der Hand, legte ihn zusammen mit einem zweiten auf die Theke und sagte leise zu der Verkäuferin: "Nun geben Sie ihm schon seinen Käse."
Alle starrten sie an. Die Verkäuferin nahm langsam das Geld und gab den Preis in die Registrierkasse ein. Dann legte sie Käse und Wechselgeld auf die Theke.
Der Junge strahlte wieder, griff hastig nach seinem Käse und wandte sich zur Tür.
Die Frau mit dem Kopftuch griff nach seiner Schulter, und er hielt erschrocken inne.
"Hier", sagte sie mit einem Lächeln und steckte ihm das Wechselgeld in die Anoraktasche. "Und nun geh zu deiner Mutter."
Der Junge schaute noch einmal alle Kunden der Reihe nach an. "Salam Aleikum!" sagte er dann lächelnd und verließ den Laden. Die Zurückgebliebenen schauten ihm einen Moment nach, wie er die Straße entlang rannte. Dann sagte der Mann: "Also, weiter. Wir haben schließlich nicht ewig Zeit."
Brigitte Hutt 2023