Großes Kino
Endlich wieder einmal Kinoabend. Es war ein toller Film, Spannung pur, ja Nervenkitzel. Dumm nur, dass manche Regisseure Spannung vorwiegend dadurch erzeugen, dass sie alles im Halbdunkel bis Dunkel ablaufen lassen, das macht es etwas mühsamer zu folgen. Und etwas unheimlicher. Aber sei's drum, es war ein toller Film, und als Zuschauer fühlte man sich sehr nah am Geschehen.
Gina lief beschwingt die paar Schritte zum Parkhaus. Sie wohnte ziemlich weit außerhalb, und um diese Tageszeit war es fast unmöglich, anders als mit dem eigenen Auto zu pendeln. Auf den Straßen war noch immer einiges los, aber im Parkhaus war es, wie üblich, dunkel, kühl, abweisend. Fast wie die Atmosphäre im Film. Gina pfiff laut die Titelmelodie und freute sich, dass die so eingängig gewesen war.
Da stand es, ihr Auto. Einsteigen, zwei Rampen hinunter, Ticket einführen, nix wie weg. Nach einer Weile hatte sie die Stadt hinter sich gelassen, und der Verkehr wurde ruhiger. Noch eine Reihe anderer Heimfahrer waren unterwegs, und tatsächlich auch ein paar Kleintransporter. Galt für die kein Nachtfahrverbot? Das klapprige Ding direkt vor ihr gehörte doch längst in die Heia. Die Straße war eng hier, und Gina traute sich im Dunkeln kein Überholmanöver zu. Ihr Nachtsehvermögen gebot Vorsicht. Überhaupt, was transportierte denn der? Gina kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf. Was waberte denn da auf der Ladefläche? Sah fast aus, als atmete da etwas, eine große, wabbelige Masse. Einatmen, ausatmen, rhythmische Bewegungen.
Gina spähte an dem Transporter vorbei, aber da kam natürlich wieder eine Kurve. Sie ließ sich zurückfallen und fuhr langsam weiter. Riskierte einen Blick auf die Ladefläche vor ihr. Da! War das … nein. Da! Wieder! Etwas streckte sich aus, wedelte. Nein, das konnte kein Tentakel sein. Sie war hier auf der Landstraße, nicht im Film. Sie konzentrierte sich darauf, ruhig und rhythmisch zu atmen. Ruhig und rhythmisch - wie diese … diese Masse da vor ihr. Gina fühlte Panik aufsteigen.
Wieder versuchte sie zu überholen, aber jetzt kam ja der Hügel, da wäre das wirklich gefährlich. Aber war es denn ungefährlich, hinter dieser ... diesem Transport herzufahren?
Ich bin wach, sagte sie sich. Ich fahre eine Strecke, die ich gut kenne. Dies ist kein Science-Fiction-Film, wabernde Massen gibt es hier nicht. Und ... ah! Da streckte sich von der Ladefläche schon wieder dieses dünne Ding aus, streckte sich zur Seite, nach hinten, als taste es durch die Luft.
Nein, dies war nicht "Men in Black". Dies war ... was war es denn?
Gina schüttelte heftig den Kopf, blinzelte. Jetzt kein Sekundenschlaf, dachte sie sich. Aber eigentlich war sie viel zu aufgewühlt, da war sicher kein Schlafbedürfnis im Spiel.
Sie versuchte, ihr Auto noch etwas zurückfallen zu lassen. Aber das war gar nicht so einfach, der Kleintransporter zuckelte sehr gemütlich vor sich hin, trotz seiner eher ungemütlichen Last. Gina schaute rechts, schaute links, schaute zum Himmel auf - und dann doch wieder geradeaus, wo die unförmige Masse rhythmisch pulsierte. Die Tentakeln - oder was auch immer - hatte er oder hatte es wieder eingezogen. Noch fünf Minuten, dann kam die Abzweigung zu Ginas Heimatdorf. Nur noch fünf Minuten, dann konnte sie dieses ... Ding vergessen.
Plötzlich fuhr sie zusammen. Auf der Ladefläche hatte sich, direkt ihr gegenüber, ein großes weißes Auge aufgetan, inmitten der Wabbelmasse. Das war zu viel. Gina trat auf die Bremse, ihr Wagen schleuderte, quietschte, sie riss das Lenkrad herum und stand, stand mit einem Rad schon in der Böschung. Der Fahrer des Transporters schien etwas bemerkt zu haben, jedenfalls hielt er ein Stück weiter vorn auch an und fuhr langsam rückwärts. Oh, nein! Nicht! Mehr konnte Gina nicht denken. Jetzt war der Fahrer ausgestiegen und herangekommen, leuchtete ihr Auto mit einer Taschenlampe an und klopfte an ihr Seitenfenster, rief ihr etwas zu. Gina spürte ihr Herz klopfen, hart, schmerzhaft. Aber ihre Hand öffnete instinktiv das Fenster.
"Sind Sie in Ordnung? Was war denn los?"
Gina öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Hilflos wies sie mit einem stark zitternden Fingern in Richtung Transporter, auf dessen Ladefläche ... sich nichts bewegte.
Der Fahrer blickte sie stirnrunzelnd an, dann folgte er ihrem Finger und richtete die Lampe auf seinen Transporter.
"Ja? Was?"
Gina sah im Lichtstrahl einen wirklich in die Jahre gekommenen zerkratzten Kleintransporter mit offener Ladefläche, auf der etwas Unförmiges provisorisch mit einer Art Plane und diversen Stricken festgezurrt war. Ein paar lose Enden von Stricken oder Stoffecken hingen schlaff herunter. Hinten in der Mitte lugte etwas Weißes zwischen Plane und Umrandung der Ladefläche hervor.
"Oh", sagte der Fahrer, "da ist einer der Säcke verrutscht. Danke. Aber deshalb mussten Sie sich nicht so erschrecken. Runterfallen kann er nicht."
Er hob grüßend eine Hand, ging zu seinem Wagen zurück, schob das Weiße zurecht und befestigte einen der Stricke darüber. Dann stieg er ein und war fort.
© Brigitte Hutt Februar 2019