Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Kreuzigung (Gedenkkirche Berlin Plötzensee)

Das Kreuz mit dem Kreuz

Was meine Kindheit nachhaltig geprägt hat, war die Erfahrung, in Westfalen katholisch zu sein. Über weite Strecken schien das nur auf meine Mutter und mich zuzutreffen; alle anderen Gestalten meiner Kindheit hatten "den richtigen Glauben" und wurden nicht müde, mir das Richtige daran klar zu machen. Ein jährlich wiederkehrendes Thema dabei war der Karfreitag: für uns nur die notwendige Vorbereitung auf Ostern und Auferstehung, für die anderen der höchste Feiertag, und vor allem die passende Gelegenheit, mir das wieder einmal zu erklären.

Solche Art von Indoktrination bewirkte bei mir den Gedanken "das kann's doch nicht sein", und so führten die interkonfessionellen Reibungen und Reibereien zu einem tiefen Bedürfnis und steter Suche nach echter Ökumene, und auch nach Toleranz und Respekt zwischen Religionen allgemein.

In meinem Erwachsenenleben kam dann das andere Extrem hinzu: der (ober)bayrische Katholizismus, das dort vorherrschende und vorgelebte Bewusstsein, Religion (diese!) als Teil der eigenen Volkstradition entwickelt zu haben. Wie man mit seinen andersgläubigen Nachbarn verfährt, spielt keine Rolle, haben sie doch in jedem Fall die falsche Religion. Und am Karfreitag fällt "man" vor dem Kreuz auf die Knie und küsst es.

Mein Verständnis dagegen war immer, dass ich aufrecht vor meinem Schöpfer stehen darf; so hatten wir es in der Aufbruchszeit nach dem zweiten vatikanischen Konzil gelernt, so hatten wir es als Studenten in einer Kellerkapelle ohne Kniebänke, ja ohne Kniemöglichkeit, praktiziert. Und nun hatte ich genug von der Kniefälligkeit. Schluss mit Karfreitag. Allerdings konnte ich nicht verhindern, dass mich Jahr um Jahr das schlechte Gewissen heimsuchte: machte ich es mir nicht zu einfach? Wollte ich nicht einfach nur vermeiden, mit den dunklen Seiten meiner Religion, mit dem Tod konfrontiert zu werden? Auch das gehört doch dazu, das war mir immer bewusst. Trotzdem konnte ich mich nicht mehr aufraffen, beging den Karfreitag nur noch in meinem Herzen.

Als dann noch päpstlicherseits die Fürbitte für die Bekehrung der Juden wieder in die offizielle Liturgie dieses Tages aufgenommen wurde, starb auch mein schlechtes Gewissen, denn Ehrfurcht vor einer jeden Religion, die mit Aufrichtigkeit ausgeübt wird, war mir Ehrensache. Den Karfreitagsgottesdienst brauchte ich nicht mehr.

Dann kam eines Tages der Beschluss, Karwoche und Ostertage mit 300 anderen Christen verschiedenster Konfessionen in einem christlichen Tagungshaus zu verleben. So viel begeisterte Berichte hatte ich davon gehört, dass ich mich darauf freute und sehr gespannt war. Allerdings - da gehörte ja nun auch der Karfreitag dazu, und eigentlich wollte ich nicht "Rosinen picken" in dieser Woche. Also ging ich zur Karfreitagsliturgie, wenn auch mit gemischten Gefühlen. Sicher, in dieser Ostergemeinde war Liturgie anders, ehrlicher, sinnerfüllter, das konnte ich erleben. Aber würde mich der Karfreitag nicht wieder - ja was eigentlich? Enttäuschen? Ärgern? Wieder sagte mein Gewissen: Liturgie ist keine Bedürfnisbefriedigung, lass dich darauf ein. Und genau das tat ich dann.

Es fing im Hof an, bei Kälte und ganz leichtem Schneefall. Plötzlich wurden Worte und Satzfragmente aus Fenstern gerufen; Begriffe, die die verpassten Gelegenheiten unseres Lebens, die Momente des Versagens andeuteten, passend zum Gesamtthema "Zwischen Entschiedenheit und Entscheidungsnot". All die "hätte - wäre - sollte"-Hilflosigkeiten unseres Lebens, auch meines Lebens, schwirrten um mich herum. Mein Leben schwirrte um mich herum. Im Saal, dem Raum für alle Liturgien, dann die versammelte Gemeinde, Klaviermusik, und: das alles überragende Kreuz an der Wand. Dann die Passion, in vier Abschnitten aus den vier Ecken des Saales vorgetragen. Kurz, ungeschminkt. Dann Stille. Dann die Aufforderung, ein jeder möge zum Kreuz vortreten, gern viele auf einmal, und im eigenen Rhythmus und Gefühl seine Stellung zum oder unter dem Kreuz einnehmen, seine Bedürfnisse, Schwächen, Versäumnisse zum Kreuz tragen. Ich trat ziemlich früh dorthin, als noch nicht viele am Kreuz standen, konnte ziemlich nah an das große Kreuz herantreten, und da traf es mich mit ganzer Wucht. Schwer. Rau. Rissig. Vernarbt. Übergroß. Brutal. Todesursache. Todesurteil. Unwiderruflich. Ende. Ausweglosigkeit. Alle meine Hilflosigkeiten und Schwächen hatten hier Platz, und wurden ganz klein dabei. Das hatte einer "auf sich" genommen? Mein Gott. Ja: mein Gott, der hatte es auf sich genommen. Und ich, ich rege mich auf über Besserwisser und Leute, die nicht meine Sichtweise haben.

Das allgemein erbetene Schweigen nach dem Gottesdienst war keine Buße, nicht einmal eine Anstrengung, es war nur wohltuend, denn das Kreuz musste erst einmal verarbeitet werden.

Nach Karfreitag kommt Ostern, neues Leben, Freude, und wir kehren alle zurück in den Alltag. Was zumindest ich mitnehmen konnte: eine Sehnsucht, ab und zu unter dem Kreuz zu stehen und abladen zu können bei dem einen, der alles versteht. Denn eins weiß ich: ich werde mich immer wieder mal aufregen über Leute, die nicht meine Sichtweise haben, und einmal im Jahr brauche ich ein Kreuz, das mich bremst. Jetzt brauche ich es.

© Brigitte Hutt 2013

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