Was wäre, wenn
oder
Mitten drin
Schon wieder Dienstag. Corinna seufzte tief. Also ran an die Voyeurssendung, morgen war sie wieder fällig. Sie verfluchte sich jede Woche, dass sie selbst diese Sendeidee vor einigen Jahren geboren hatte. Hörerinnen und Hörer konnten sich da mit einer Geschichte melden, in der sie beschrieben, in welchem Dilemma sie steckten, welche Auswege und Alternativen sie in ihrem Kopf wälzten, bei welcher Entscheidung sie sich Unterstützung wünschten. Das wurde dann im Sender vorgestellt, und alle, die sonst nichts zu tun hatten, konnten anrufen, Text- oder Sprachnachrichten schicken, in denen sie die nach ihrer Meinung ultimativ richtige Entscheidung empfahlen. Voyeursportal. Die Hörerinnen und Hörer lechzten geradezu nach mehr. Eine Person entblößte sich im Radio, und Hunderte labten sich daran. Was für eine Gesellschaft. Corinna hatte sie hassen gelernt, und sich selbst dazu, weil sie immer in begeistertem bis besorgtem Ton Geschichten und Reaktionen vortrug.
Als sie zum Jahreswechsel vorgeschlagen hatte, das Format langsam wieder einzustellen, war sie in einen Sturm der Entrüstung geraten. Nicht beim Publikum, das hatte davon ja gar nichts mitbekommen, aber die Redaktionskonferenz liebte die Sendung. Natürlich nur, weil sie Quoten und damit gute Werbekunden einbrachte, nicht etwa wegen der Inhalte, nein. Also machte sie weiter. Jeden Dienstag Geschichten sichten und auswählen, jeden Mittwoch den Hörern die Frage vorlegen: "Was wäre, wenn ...".
Was wäre, wenn ich meinem Mann sagen würde, dass ich ihn nach der Betriebsfeier betrogen habe. Was wäre, wenn ich meiner besten Freundin sagen würde, dass ich weiß, was ihr Freund freitags treibt. Was wäre, wenn ich meinen Nachbarn sagen würde, wer ihre Geranien klaut. Oder was, wenn ich den anderen Nachbarn endlich mal sagen würde, dass ihre fast täglichen Grillpartys einfach zu laut sind.
Lustlos blätterte Corinna die aktuellen Einsendungen durch. Es musste ja auch noch jede Woche etwas Neues sein, ein Thema, das noch nie dagewesen war, und das wurde immer enger. Obwohl - manchmal glaubte man gar nicht, womit die Leute sich so beschäftigten. Mitunter lag die Vermutung nahe, dass eine Geschichte nur Fake war. Einmal im Radio, wenn auch mit geändertem Namen, das war für viele ein Kick. Stets rief sie die auserkorenen Personen an und versuchte, die Geschichte ein wenig abzuklopfen, aber in der Regel sprudelten die nur so mit Fakten herum, und zu guter Letzt gab den Ausschlag, welche Geschichte dem Publikumsrachen am besten schmecken würde.
Dieses Mal fand nichts Gnade vor Corinnas Augen. Da kam ihr eine Idee. Sie arbeitete ein Skript aus, prüfte es, überarbeitete es und fand sich schließlich gut vorbereitet für die Sendung dieses Mittwochs.
Am nächsten Morgen nach den Neun-Uhr-Nachrichten setzte sie ihren begeistertsten Tonfall ein und begann:
"Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer, es ist wieder Mittwoch, es ist wieder Was-wäre-wenn-Zeit. Heute hören wir uns die Geschichte von Beate F. an, die bei einem ... Fernsehsender arbeitet. Sie schreibt: ‚Ich muss jede Woche diese Sendung machen, die das Publikum und die Werbekunden so lieben. Eigentlich ist es eine Sendung für Kommunikationsgestörte, also für Leute, die nicht mehr miteinander reden können, sondern stattdessen ihrem Lieblingssender ihre intimsten Geheimnisse erzählen, ungeachtet der Tatsache, wer das dann alles mit anhört, und dann Antworten auch nicht direkt erhalten, sondern ebenfalls via Sendeformat. Ich werde schon paranoid. Was wäre, wenn ich die Sendung einfach hinwerfe?' - Jetzt seid ihr dran, Leute, schreibt uns an studio@meinsender.de, gern auch per Whatsapp, Text- oder Sprachnachrichten, die Nummer findet ihr auf www.meinsender.de, das wisst ihr ja. Und nun entspannt uns Limp Bizkit mit ‚Behind Blue Eyes' ..."
Gegen Mittag dann, nach vielen Zwischenmeldungen und etlichen Einspielungen der Sprachnachrichten, konnte Corinna stolz verkünden: "Heute ist die Aussage unserer Zuhörerinnen und Zuhörer ziemlich eindeutig, und ich danke euch schon mal dafür! 76 Prozent finden eine solche Sendung unmöglich, empfehlen, die Ideengeber mal auf geistige Gesundheit zu untersuchen, auf jeden Fall aber den ganzen Sender zu meiden, womöglich gar in den sozialen Medien mal ordentlich dagegen loszutreten. Nur 24 Prozent von euch finden es wichtig, dass auch Kommunikationsgestörte mit einer solchen Sendung ein Portal bekommen.
Tja, Leute, danke, danke, danke. Hiermit melde ich mich wunschgemäß ab. Kein Was-wäre-wenn mehr, zumindest nicht mit mir. Und Tschüss - eure Corinna alias Beate!"
© Brigitte Hutt 2021