Moose Crossing
"Das letzte Mal", sagte Margret nachdenklich und zog die Strickjacke enger um ihre Schultern. Mit den Augen tastete sie wie gewohnt die Ufer des kleinen Sees ab. Die alten Bäume, die sich fast nicht bewegten, spiegelten sich in der Wasseroberfläche, die ebenfalls von keinem Lüftchen gekräuselt wurde. Es war still in der beginnenden Dämmerung. Hier und da flog noch ein Vogel durch den Himmel und spiegelte sich ebenfalls im Wasser.
Leo ächzte, streckte abwechselnd beide Beine und erhob sich von seinem Klappstuhl. "Ja", antwortete er, "zwanzig Jahre sind genug."
"Zwanzig Jahre. Wirklich schon?", fragte Margret leise, aber Leo war schon zum Auto gegangen. Sie schraubte den Deckel von der Thermosflasche und goss sich den letzten Rest Tee ein. Obwohl er nicht mehr besonders heiß war, blies sie sanft in den Becher, verglich wie gewohnt die Teeoberfläche mit der Seeoberfläche, lächelte und trank in kleinen Schlucken.
"Weißt du noch, wie wir hier eher zufällig hergekommen sind?", rief sie zu Leo hinüber. "Hierher kommen die Elche gern abends, um zu trinken. So stand es im Reiseführer. Wir haben zwar keinen Elch gesehen damals, aber die Ruhe und die Bilderbuchsicht über den See waren der perfekte Abschluss für einen Tag des Herumfahrens und Wanderns."
"Nicht nur damals haben wir keinen Elch gesehen", entgegnete Leo, der zurückgekommen war, um seinen Klappstuhl zu holen. "In all den Jahren, alle zwei Jahre, wenn wir im Herbst auf diesen gottverlassenen Campingplatz zurückgekehrt sind, wenn wir am Abend hier gesessen sind, nie haben wir auch nur eine Elchnase gesehen." Energisch klappte er den Stuhl ein und ergänzte: "Komm jetzt bitte, es wird zu dunkel. Du weißt, dass ich in der Nacht nicht mehr so gut sehe. Und du warst schon immer nachtblind."
"Damals haben wir noch auf der Picknickdecke gesessen", erinnerte Margret sich und trank den letzten Schluck Tee. Sie ließ ihre Blicke nicht von den Ufern des Sees.
"Schluss mit Nostalgie. Schluss mit den ewigen Reisen nach und durch Neuengland. Gibt es einen Fleck hier, den wir noch nicht auswendig kennen?"
"Aber es ist doch so schön hier. Der Kancamagus Highway, das strahlende Herbstlaub, der Nebel morgens ..."
"... und die fehlenden Elche abends", ergänzte Leo und hielt ihr die Hand hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
"Ach, Leo", sagte sie seufzend und streckte ihren Rücken. "Gib doch zu, dass du es genauso vermissen wirst wie ich."
Er griff nach dem Picknickkorb und Margrets Klappstuhl und wandte sich zum Auto. "Vor allem die Elche", brummte er.
Margret lachte, drehte dem See den Rücken und folgte ihm. "An jeder Landstraße die Schilder mit ‚moose crossing', und nicht einer hat unsere Wege gekreuzt."
"Vielleicht hat ihnen unser Radioprogramm nicht gefallen", schmunzelte Leo.
"Oder unser Leihwagen", sagte Margret und betrachtete die Staubschicht auf dem Lack. "Es war ja immer der billigste, den wir kriegen konnten."
"Sonst hätten wir uns nicht alle zwei Jahre die Reise hierher leisten können", erinnerte er sie.
"Ich hatte in den Jahren dazwischen richtige Entzugserscheinungen", sagte Margret traurig, "und nun ist es das letzte Mal."
Leo seufzte und sortierte Stühle, Körbe, Taschen und Stiefel im Kofferraum. "Wir haben immer zu viel Zeug dabei", brummte er.
Margret verabschiedete sich wehmütig von den Bäumen ringsumher. Ein gelbes Blatt und dann ein leuchtend rotes segelten langsam vor ihr zu Boden, als ob die Bäume ihr antworten wollten. Einen nach dem anderen schaute sie hinauf und hinunter. Dann sah sie die großen, braunen Augen.
Sie hielt den Atem an und bewegte sich nicht. "Leo", flüsterte sie, "schau mal."
"Hmm?", kam es aus dem Kofferraum zurück.
Der große pelzige Kopf schob sich zwischen den Bäumen hervor, die mächtigen Schaufeln passten genau in die Lücke zwischen den Stämmen. Das Tier witterte, warf einen kurzen Blick auf die Touristen, dann trabte es über die Lichtung auf den anderen Teil des Waldes zu, fast lautlos.
"Leo!", Margret rüttelte ihn an der Schulter. "Da!"
Leo fuhr auf und stieß mit dem Kopf gegen die Kofferraumklappe. "Verfl... - was ist denn?"
Er rieb sich den Kopf, schaute Margret an und sah ihren verzückten Blick, der in die Ferne, in den Wald gerichtet war.
"Ist ja gut", meinte er versöhnlich, "wir haben jetzt so viele Fotos, wir können uns den Wald und auch den Lily Pond jederzeit auf die Wohnzimmerwand holen."
Margrets Blick kam zu ihm zurück, verwirrt, erstaunt. Sie schüttelte den Kopf und wies auf den Wald, dorthin, wo der Elch verschwunden war. Sie öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus.
Leo legte einen Arm um ihre Schulter und drückte sie. "Komm, Gretl, es wird dunkel. Wir müssen fahren. Lass uns Abschied nehmen."
Margret nickte und öffnete die Beifahrertür. Leo schloss den Kofferraum, setzte sich ans Steuer und startete.
"Zwanzig Jahre sind genug, wirklich", sagte er, als er auf die schmale Straße einbog.
© Brigitte Hutt Herbst 2018, in loving memory of Kancamagus Highway, New Hampshire