Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Scherbe

Scherben bringen Glück?

Es war ein Herbstnachmittag, windig, feucht, ungemütlich. Vor der Haustür angekommen, merkte ich, dass mein Schlüsselanhänger fehlte - mein funkelnder Bergkristall, das letzte Geschenk meiner Lieblingstante. Ich stieß einen leisen Fluch aus und machte mich seufzend auf die Suche, denn schon bald würde es zu dunkel sein. Eigentlich konnte er nur auf dem Weg zur Bushaltestelle zu finden sein ... das hatte ich nun davon, dass ich den Schlüssel immer schon unterwegs aus der Tasche zog.

Schon an der ersten Ecke glitzerte es zwischen dem trockenen, braunen Laub. Hab ich dich!, dachte ich und bückte mich. Irrtum, es war ein Stück Alufolie. Zigarettenpapier? Einwickelpapier eines Imbisses? Ich schnupperte daran. Nichts, lag wohl schon zu lange hier. Gedankenverloren steckte ich es in die Tasche und suchte weiter. Zerknüllte Papiertaschentücher und Zeitungsfetzen ignorierte ich. Eine ganze Weile sah ich nichts Glitzerndes, aber interessanterweise einen beschriebenen Zettel. Ich gebe zu, er machte mich neugierig.

... sehe nicht ein, wieso du meinst ... versichere dir, ich habe ... unter der Laterne am Großmarkt

Das waren Zeilen aus einem Brief, das war eindeutig. Eine Verabredung unter der Laterne am Großmarkt. Ein Missverständnis, das aufgeklärt werden sollte. Wie romantisch. Leider fehlte Datum und Uhrzeit, der Großmarkt war nur fünf Minuten entfernt. Ob ich ...?

Unfug, wies ich mich zurecht, ich war auf der Suche nach dem Schlüsselanhänger und kein Voyeur. Da, das Helle im Unkraut am Straßenrand! War er das nicht? Ich bückte mich, griff erst einmal in sehr feuchte Blätter und versuchte, nicht an Hunde zu denken. Dann piekste es. In der Hand hielt ich eine Spiegelscherbe.

Vorsichtig untersuchte ich meine Finger. Offensichtlich unverletzt und - ich schnupperte - wohl auch kein Urin. Die schräg stehende Sonne spiegelte sich in der Scherbe, als ich sie ein wenig hin und her drehte. Mit der Scherbe in der einen und dem Brieffetzen in der anderen Hand setzte ich meinen Weg fort, immer abwechselnd auf den Boden und auf das spiegelnde Glas blickend.

Kronkorken, Zigarettenkippen, Draht, Plastik, ein Schnuller. Noch eine Scherbe, vermutlich Bierflasche.

Hoppla! Jetzt hatte ich jemanden angerempelt. Ich entschuldigte mich und erklärte, dass ich einen wichtigen Schlüsselanhänger suche. Der Passant schaute auf die Dinge in meinen Händen, schüttelte den Kopf, ein wenig genervt, und eilte davon.

Man sollte höflich miteinander umgehen, fand ich. Ich hatte mich entschuldigt, mehr konnte ich doch nicht tun! Also schüttelte ich nun meinerseits den Kopf und verfolgte meinen Weg weiter, bis ich vor einer Laterne stand, die mir nicht sonderlich bekannt vorkam. Ich blickte umher und sah - nicht etwa meine Bushaltestelle, sondern den Eingang zum Großmarkt, der um diese Zeit ziemlich verlassen lag.

Wie war jetzt das passiert? Wo und vor allem wieso war ich falsch abgebogen? Verflixt, bald würde es dunkel, und wenn jemand anderes meinen Anhänger fand ... nicht auszudenken.

Ein Windstoß riss mir das Briefchen aus der Hand. Als ich ihm mit einem Hechtsprung nachsetzte, drückte ich wohl die Hand um die Scherbe so fest zu, dass sie mir einen ansehnlichen Schnitt in die Handfläche verpasste.

Himmel ... heute lief aber auch alles schief. Ich ließ den Brief, wo auch immer er jetzt war, und lehnte mich an die Laterne, öffnete vorsichtig die Hand und betrachtete die Blutstropfen, die langsam Haut und Spiegel befleckten. Was tat ich hier eigentlich, fragte ich mich. Für ein Andenken Ärger, Schmutz und Wunden in Kauf nehmen? In meiner Schublade lagen wohl noch fünf oder sechs weitere Schlüsselanhänger. Sicher, nicht so erinnerungsträchtige, aber immerhin. Ich zog das Stück Alufolie aus meiner Tasche, hielt es in den Wind, ebenso die Scherbe, und dann ließ ich beides fliegen. Das heißt, fliegen gelang nur der Folie, die Scherbe fiel mit einem leisen Klirren zu Boden.

"Was tun Sie da?", hörte ich eine Kinderstimme. "Das ist doch Umweltverschmutzung!"

Ich schaute auf. Ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt, einen dicken Rucksack umgeschnallt, kam auf mich zu. Auch das noch.

"Das ... das war schon, ähm, Müll", antwortete ich ungeschickt, "das habe ich schon vom Boden aufgehoben."

"Und warum lassen Sie es dann einfach wieder fallen?", fragte der Junge empört weiter. "Es gehört in einen Mülleimer. Da, schauen Sie, da drüben ist einer!"

Er wies mit seiner rechten Hand auf die andere Seite des Großmarkteingangs. An seinem Mittelfinger baumelte etwas Glitzerndes.

"Was hast du da?", fragte ich aufgeregt.

"Was? Wo?" Der Junge senkte die Hand und schaute an sich herunter.

"An deiner Hand! Was ist das? Woher hast du das?"

Er hob die Hand wieder und sagte stolz: "Das habe ich vom Boden aufgehoben. Und es ist noch ganz heil und ziemlich sauber. Das werde ich meiner Schwester morgen zum Geburtstag schenken, die mag so Glitzerzeug."

An seinem Finger baumelte, eindeutig, mein Bergkristall. Kleinlaut fragte ich: "Wo hast du das denn gefunden?"

"Mitten auf der Straße", erzählte er, "auf dem Zebrastreifen bei der Bushaltestelle an der Baumannstraße. Stellen Sie sich vor! Ein paar Minuten später wären schon 'zig Autos darüber gerollt, dann hätte man es bestimmt nur noch wegwerfen können!"

Nachdenklich betrachtete ich sein Fundstück. Tante Hilde? Hätte wohl gelacht und den Jungen gelobt, dachte ich. Also seufzte ich und sagte: "Gratuliere. Hast du gut gemacht. Und deiner Schwester viel Freude damit!"

"Danke", sagte er überrascht, winkte mir zu und ging seiner Wege.

Weder Alufolie noch Brief waren mehr zu sehen, der Wind hatte gründliche Arbeit geleistet. Nur Kronkorken, Zigarettenkippen, Draht, Plastik, Glasscherben. Ich hob die Spiegelscherbe auf und brachte sie zum Mülleimer.


© Brigitte Hutt Herbst 2018

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