Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Auschwitz Birkenau, der Zaun

Den Schrecken wach halten

Gedenktag der Auschwitz-Befreiung 2020. Same Procedure as every year. Same important procedure.

Die letzten so genannten Zeitzeugen werden zusammen gebracht, werden zu den Veranstaltungen gefahren, quälen sich hin schon allein wegen ihres hohen Alters, und man sieht ihnen an, wie sehr sie das ganze Geschehen, das ja so lange zurückliegt, noch immer mitnimmt, existenziell berührt.

Die letzten Zeugen jener Zeit, die meisten unter ihnen schon als Kinder in Konzentrationslager der Nazis deportiert, die meisten daraufhin ohne Eltern aufgewachsen. Bewundernswert, wieviel Kraft sie noch aufbringen, bewundernswert, wie viele von ihnen noch umherreisen, zu Schülergruppen sprechen.

Irgendwann in den nächsten Jahren ist das dann vorbei, dann sind sie alle in einem anderen, und, ich vertraue darauf, in einem besseren Leben.

Und wir?

Atmen wir auf?

Bedauern wir es? Für kurze Zeit? Bis der Strom des Geschehens es uns vergessen lässt?

Ich wehre mich dagegen. Wir können uns nur als menschlich, humanistisch, und, wer will, als christlich bezeichnen, wenn wir das Vergessen nicht zulassen. Wir müssen jetzt, jetzt!, solange es noch ein paar lebende Zeitzeugen gibt, einen Prozess implementieren, der das Erinnern weiter trägt, auch wenn Überlebende das nicht mehr können. Mehr als das: Wir müssen den Schrecken wach halten.

Bundespräsident Steinmeier sagte in diesen Tagen, dass jede/r Jugendliche sich mit jener Zeit beschäftigen sollte, KZs besuchen sollte, sich informieren sollte. Aber wie viele nehmen das nur als Pflichtprogramm mit? Nein, nicht, weil sie uninteressiert sind am Leiden der Menschen. Sensibel für das, was passiert, sind die meisten Jugendlichen, sehen wir uns nur die Klima-Aktivisten an. Aber es ist ungleich schwieriger, Geschichte nur aus Geschichtsbüchern zu lernen. Die Stunden mit Zeitzeugen sind intensiv, hinterlassen etwas, rütteln auf. Wir können das nicht erhalten, aber wir können uns überlegen, was danach kommen kann.

Viele der KZ-Überlebenden, viele derer, die von dem damaligen Regime verfolgt wurden und irgendwie, durch Flucht oder Untergrund, oft auch mit Hilfe von mitfühlenden "Normalbürgern", überlebt haben, waren in der Lage, Berichte zu schreiben. Viele davon sind sogar als Bücher veröffentlicht worden. Unterschiedliche Menschen, unterschiedliche Wege, unterschiedliche Aufzeichnungen. Und doch: Unglaublich packend, mehr, wie gesagt, als jedes Geschichtsbuch!

Können wir diese uns bleibenden Berichte nicht am Leben erhalten? Nicht in den Regalen von Buchhandlungen und Verlagen, sondern aktiv in Veranstaltungen und im Schulunterricht? Gerade durch die Unterschiedlichkeit der Erfahrungen geben sie ein facettenreiches Bild, und wenn man sie einfach nur in Auszügen läse, von jungen Menschen selbst lesen ließe, wie viele Bilder ließen sich transportieren und implantieren!

Max Mannheimer, Spätes Tagebuch

Michael Degen, Nicht alle waren Mörder

Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern

Wieslaw Kielar, Anus Mundi

Oder auch, als sanfte Einführung: Das Tagebuch der Anne Frank.

Ist ein gut zu lesendes Buch, denn als Anne dieses Tagebuch schrieb, hatte sie nicht die blasseste Ahnung, was noch auf sie zukommen würde.

Das ist ein flüchtiger Blick in meinen privaten Bücherschrank, nur ein kleiner Ausschnitt, und es ist ein eher winziger Ausschnitt bezogen auf die Berichte, die uns zur Verfügung stehen. Lassen wir die Toten zu uns sprechen, wenn es keine Lebenden mehr dafür gibt! Lassen wir sie aktiv sprechen, verlassen wir uns nicht darauf, dass die Menschen das schon lesen werden, denn das wird nach ein oder zwei Generationen auch sterben. Halten wir die Erinnerung bewusst am Leben mit Zeitzeugenberichten. Und lassen wir die jungen Menschen das selbst lesen, laut lesen. Vor Publikum lesen. Das wäre das Vermächtnis, das ich gern installieren würde. Halten wir den Schrecken wach. Denn wir können unsere Kinder nur behüten, wenn wir ihnen klar machen, dass es Schrecken gibt, die jederzeit aufleben können, wir können sie nur behüten, wenn wir sie stark machen, so stark, wie die Kinder, die Auschwitz überlebt haben, denn das waren die wenigsten.

Einmal muss doch Schluss sein, sagt ihr? Ja. Das ist dann zugleich der Neuanfang. Des Schreckens.



© Brigitte Hutt 29.1.2020

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