Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

Home
Datenschutzerklärung
Impressum
Texte
Dialog
Fotogalerien
Was alles vor der Tür steht ...

Sesam ...

Die Vorstadtstraße war um diese Tageszeit ruhig und leer. Die Kinder hatten wieder einmal Verstecken gespielt, und wieder war es Marco, den sie lange Zeit nicht fanden. Er hatte immer die tollsten Ideen für unauffindbare Verstecke.

"Jetzt wird es mal echt langweilig", maulte Leon.

"Ich nehme an, er ist in einem der Nachbargärten", flüsterte Pia.

"Aber wir dürfen doch gar nicht in die Gärten von anderen Leuten!" Alex war wie immer der Vorsichtigste.

"Und? Stört das Marco? Kommt, wir schauen mal. Zuerst bei Dörflers."

"Aber ganz leise. Und ganz vorsichtig."

"Schisser, Alex!"

Die Kinder rannten die Straße entlang, sahen sich vorsichtig um und drückten sich um die Hecke bei Familie Dörfler. Deren Garten bestand im Wesentlichen aus Rasen, nur ringsum wuchs Strauchwerk. Die Kinder bemerkten niemanden im Garten, alle Fenster waren geschlossen, also duckten sie sich unter und hinter die Sträucher. Aber auch da fanden sie Marco nicht.

"Wisst ihr noch, im letzten Sommer? Da hat er sich in Mauerritzen gequetscht, dünn wie er ist."

"Das war auf dem Hof seiner Großeltern. Hier gibt es keine Mauerritzen."

"Marco! Komm ra-haus!" Pia rief es in die Runde.

"Psst! Spinnst du?"

Aber Pia machte ungestört weiter. "Marco, gleich haben wir dich! Egal, wo du dich reingequetscht hast! Hier vielleicht?" Und sie hob die Fußmatte an, die vor der Dörfler-Haustür lag.

"Oh, schaut mal!"

Leon bückte sich und hielt triumphierend einen Schlüssel hoch.

"Ist das Dörflers Schlüssel?"

"Was denn sonst?"

"Für die Haustür?"

Leon hielt Alex den Schlüssel hin. "Probier's doch!"

Alex zog seine Hand erschrocken zurück. "Das geht doch nicht!"

"Klar geht das." Pia schnappte sich den Schlüssel und steckte ihn ins Haustürschloss. "Wenn man einen Schlüssel hat, kann man rein. Also: Sesam, öffne dich."

Aber der Schlüssel ließ sich nicht richtig einführen und drehen schon gar nicht.

"Hintertür? Kellertür?"

Leon holte sich den Schlüssel zurück und rannte zur Kellertreppe. Das Jagdfieber hatte nicht nur ihn gepackt, die anderen folgten eilig. Am unteren Ende der Kellertreppe atmeten sie erst einmal durch.

"Hier sieht uns keiner!"

Leon nickte und steckte den Schlüssel in das Kellertürschloss, drehte, flüsterte feierlich: "Sesam, öffne dich!", und - die Tür schwang mit nur ganz leisem Knarzen auf.

Die Kinder schauten einander atemlos an. Was nun? Pia fasste sich als erste und betrat den Keller. Natürlich folgten die anderen. Leise gingen sie einen Flur entlang, bis sie eine Treppe fanden. Kurz lauschten sie, dann stiegen sie vorsichtig hinauf. Die Tür am oberen Ende war nicht verschlossen. Dahinter eine schönere, steinerne Treppe, neben der ein offener Durchgang das Wohnzimmer sehen ließ.

"Boa! Die haben aber einen tollen Teppich!"

"Und schau mal die Uhr! So eine hat mein Patenonkel auch. Die muss echt teuer sein!"

"Und guck mal auf dem Sofa! Die süßen Stofftiere!"

"Ja, so einen Delfin, den hätte ich auch gern!"

"Ob wir den ..."

Sie waren ein paar Schritte auf das Wohnzimmer zugegangen, aber nun hielten sie plötzlich inne.

"Mensch, Pia, Leon, das wäre dann aber Diebstahl. Ich glaube, da verstehen unsere Eltern keinen Spaß."

"Nur, wenn es rauskommt."

Aber auch die forsche Pia ging nicht weiter in das Zimmer hinein.

"Eigentlich ist das doof. Also, die Haustür zusperren, aber dann den Schlüssel für den Keller unter die Matte legen. Da kann dann wirklich jeder rein."

"Nur, wer den Schlüssel findet."

Leon nagte an der Unterlippe. "Ich habe mal gehört, wie mein Vater telefoniert hat, mit Tante Bea. Er hat gesagt ...", Leon überlegte angestrengt, "... wenn wir nicht da sind, du weißt ja, wo du ihn findest."

"Ihn?"

"Also, jetzt nehme ich an, er hat auch irgendwo einen Schlüssel versteckt."

"Dein Vater??"

"Machen das vielleicht alle Erwachsenen?"

"Boa, und zu uns sagen sie immer: ‚Schließ bloß gut ab!'"

"Kommt."

Pia nahm Leon den Schlüssel ab, schob die Jungen zurück zum Keller, schloss die Tür hinter sich und zuletzt auch die Kellertür von außen. Da standen sie nun, und in ihren Köpfen ratterte es, das war in ihren Augen abzulesen. Da hörten sie eine wohlbekannte Stimme.

"Hey, wo seid ihr denn? Ist ja mordslangweilig!"

Marco. Sie stiegen die Außentreppe hinauf und verließen vorsichtig das Grundstück.

"Na, wie war ich?"

Aber keines der anderen ging auf Marcos triumphierenden Ton ein. Pia hielt Marco den Schlüssel hin.

"Wir haben ein besseres Spiel gefunden."

"Hä?"

"Wir schauen jetzt mal bei allen Häusern, ob die Leute Schlüssel unter Fußmatten versteckt haben. Auch unter Blumentöpfen oder Blumenkästen. Was halt so draußen herumsteht."

Alex war es, der beim nächsten Haus den Schlüssel fand: Da lag ein bunt bemalter Stein neben der Haustür, und er war auch gar nicht so schwer, wie er aussah. Unten hatte er einen Hohlraum. Allmählich machte es allen Spaß. Sie rannten von Haus zu Haus, prüften kurz, ob jemand sie sah, was am frühen Nachmittag, wo alle Erwachsenen in der Arbeit waren, auch kaum zu erwarten war, dann hoben sie, notfalls mit vereinten Kräften, jede Matte, jeden Topf, Kasten und Stein an. Zu guter Letzt hatten sie acht Schlüssel. Sie gingen langsam zurück in die kleine Grünanlage, wo sie für gewöhnlich spielten.

"Und nun?" Marco war ein bisschen missmutig, denn das Spiel hatten sie ohne ihn erfunden.

"Jetzt ..."

Pia schaute Leon an, er zuckte die Achseln. Jetzt wussten sie nicht mehr weiter.

"Also Diebstahl ... da mache ich nicht mit", sagte Alex. "Ich kann keinen Ärger brauchen, Papa hat schon genug über das Zeugnis geschimpft."

"Na ja", meinte Leon versöhnlich, denn an sein Zeugnis mochte er gerade nicht denken, "war aber doch lustig, die alle zu finden. Legen wir sie halt erst mal zurück. Und überlegen uns, ob wir eine gute Idee dafür haben. Morgen ist auch noch ein Tag."

Pia drehte einen Schlüssel in ihrer Hand. "Du, schau mal, der sieht aus wie deiner!"

Alle Kinder hielten die Schlüssel nebeneinander.

"Der hier ist von Bergmanns!"

"Quatsch. Das ist Dörflers."

"Gar nicht wahr. Der hier ..."

Sie schauten einander an und mussten plötzlich unbändig lachen.

Wie auf Kommando warfen sie sich die Schlüssel gegenseitig zu, so lange, bis Marco "Stopp" rief. Dann nahm jedes Kind zwei von den Schlüsseln, Pia teilte jedem ein Haus zu, und sie liefen zurück und versteckten die Schlüssel da, wo sie sie gefunden hatten, zumindest an dem jeweils passenden Platz, also Matte, Topf, Kasten oder Stein. Welcher Schlüssel nun an welchem Platz war - da hatten sie komplett den Überblick verloren.

Dann spielten sie noch eine Runde Fangen, bis es Zeit fürs Heimgehen war. Über die Schlüssel sprachen sie nicht mehr.

Aber von nun an beobachteten sie sorgfältig das Kommen und Gehen bei den Nachbarhäusern. Eine regelrechte Postenkette bildeten sie an der Straße. Unter jedem Baum stand eines von den Kindern und ließ geduldig einen Ball hüpfen oder übte mit dem Springseil oder was sonst gerade griffbereit war. Wenn sich jemand, der hier nicht wohnte, einem Haus näherte, ertönte ein Pfiff, und die Kinder trafen sich hinter einem Busch in der Nähe des Hauses.

Bereits am zweiten Tag wurde ihre Geduld belohnt: Am Haus der Familie Ohnsorg bückte sich ein Fremder, kramte etwas hervor (ja, unter dem Hortensientopf, sie kannten sich jetzt aus), steckte etwas ins Schloss, drehte ... und es geschah nichts. Der Fremde wurde blass, murmelte etwas ("er flucht bestimmt", flüsterte Pia Marco ins Ohr), versuchte es erneut, zog dann sein Telefon aus der Tasche, wählte, sprach, lauschte, sprach noch einmal, lauschte wieder, bückte sich dann erneut zum Hortensientopf und verließ, sichtlich wütend, das Grundstück.

Noch besser war es weitere zwei Tage später bei Bergmanns: Eine Frau mit einer schweren Tasche kam, griff verstohlen unter den Geranienkasten und schleppte dann ihre Tasche die Kellertreppe hinunter, wo die Kinder sie nicht weiter beobachten konnten. Aber nach einer Weile, Marco wurde schon ungeduldig, knirschte etwas und die Frau stieß einen spitzen Schrei aus. Dann kam sie wieder zum Vorschein, schleppte mühsam ihre Tasche, schweißüberströmt - und hielt einen abgebrochenen Schlüssel in der Hand.

Die Kinder hinter ihrem Busch konnten nur mühsam ein Prusten unterdrücken.

Die Ferien waren gerettet. Das neue Spiel war voller Überraschungen, und die Kinder lernten ganz nebenbei noch geduldiges Warten. Auch kam das Ganze nie heraus, denn über versteckte Schlüssel redete niemand, also auch nicht über deren seltsame Verwandlung.



Brigitte Hutt 2023

zurück