So bunt
Seit zwei Stunden lief sie nun schon herum, ohne dass ihre Laune sich gebessert hätte. Lief herum, so wie das Leben derzeit an ihr vorbeilief. Die anderen hatten die tollen Jobs, die tollen Partner, und nun hatte der Mann, den sie schon so lange kannte, den sie … Er hatte sich für eine andere entschieden. Was für ein grässlicher Tag. Und was für ein grässlicher Wald, und Herbst war auch noch.
Eine Parkbank, endlich. Das brauchte sie jetzt. Aber da saß schon jemand, wenn auch so an einem Ende, dass Platz blieb. Zögernd ging sie näher. Der Mann, schon älter, weißhaarig, hielt ein welkes Blatt in seinen Händen, über das er unaufhörlich strich, ja beinahe streichelte. Seltsame Beschäftigung.
"Entschuldigen Sie … darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?"
Der Mann sah kaum auf, nickte und sagte mit einer weichen, sanften Stimme: "Natürlich. Bitte."
Sie ließ sich auf das andere Ende der Bank fallen.
"Oh, das war aber mal ein heftiger Seufzer. Haben Sie Kummer?"
Überrascht blickte sie zu ihm hinüber. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass ihr der Seufzer entfahren war.
"Wie man es nimmt", antwortete sie unsicher, "es ist halt alles so ... so grau."
"Wie können Sie das sagen? Es ist alles voller Farben. Und jede hat ihre Bedeutung."
"Ach ja? Na, wenn Sie das sagen."
"Außerdem: Grau ist die Farbe der Beständigkeit, der Verlässlichkeit. Und Sie werden zugeben, dass das eine gute Eigenschaft ist."
Komischer Kauz. Und noch immer streichelte er das welke Blatt.
"Und ihr Blatt da? Dieses Braun? Hat das auch so eine tolle Bedeutung?"
"Braun ist die Farbe der Gemütlichkeit, der Geborgenheit. Der Heimeligkeit, falls Ihnen dieses Wort etwas sagt."
"Na toll." Sie beschloss, ihn ein bisschen aufs Glatteis zu führen. "Wissen Sie noch mehr? Was ist mit Rot, zum Beispiel? Was man ja in dieser Jahreszeit nicht einmal antrifft."
Er lachte. "Aber sicher doch. Dächer. Kindermützen. Ein paar verirrte Blumen. Und - Rot ist die Farbe der Freude. Es ist die erste Farbe, die Kinder lieben. Kinder, die sich noch über alles freuen können."
"Ja. Aber das vergeht. Zuletzt bleibt ... grau."
"Aber nein. Dann kommen all die anderen Farben. Blau zum Beispiel, wie der Himmel."
"Der ist heute auch grau."
"Kinder malen ihn blau. Die Farbe der Verheißung. Der Himmel ist das, was man sich wünscht, das Besondere, Geheimnisvolle, von dem jeder eine andere Vorstellung hat. Der immer da ist, auch wenn ihn Wolken verdecken. Darüber ist immer das Blau. Sie können es spüren."
"Kann ich das? Womöglich muss ich auch die Sonne spüren!" Sie grub ihre kalten Hände tief in die Manteltaschen.
"Aber sicher. Heiß wie immer, nur ein bisschen weit weg. Und das ist gut so, wenn man es physikalisch betrachtet."
"Klar, und sie ist gelb, und das ist die Farbe der Falschheit."
"Aber nein. Gelb ist Licht. Und ein gutes Bier, oder eine Frucht. Gern auch eine Limonade. Gelb ist Geschmack, die Farbe der Sinnlichkeit."
"Kommen wir zu Grün. Das im Herbst braun und grau wird."
"Wird es das? Grün bleibt immer grün. Sehen Sie nur die immergrünen Bäume, das Efeu, das Gras. Im Winter ruhen sich die Farben etwas aus. Für uns, damit wir uns im Frühling freuen können, wenn sie wieder intensiver werden. Wenn alles immer gleich ist, wird es Gewohnheit, dann bleibt die Freude aus."
"Und was ist nun Grün für Sie?"
"Grün ist das Leben. Kommen und gehen, werden und vergehen, ausprobieren, sich nicht satt sehen können, sich nicht satt hören können, immer weiter machen. Ein ewiges Versprechen. Das ist Grün. Die schönste Farbe überhaupt."
"Woher nehmen Sie diese Lebenslust?" Ihre Stimme war ganz leise geworden.
"Ich weiß nicht. Ich lasse mich darauf ein, auf das Leben, meine ich. Was sonst?"
"Und es hat sie noch nie enttäuscht?"
"Ach, eigentlich nicht. Ich will nicht sagen, dass ich noch nie enttäuscht worden bin, aber nicht vom Leben. Nein, das nicht. Dazu ist es zu bunt."
"Ja, die Farben. Die haben es Ihnen angetan, nicht wahr? Ich nehme an, Sie haben viel Zeit, aus dem Fenster zu schauen."
Er lächelte und schwieg. Dann griff er neben sich und hielt plötzlich einen Stock in der Hand. Kurz hob er den Kopf zum grauen Himmel und sagte: "Auf Wiedersehen. Und vergessen Sie die Farben nicht."
Er stand auf und tastete sich mit dem Blindenstock den Weg entlang.
© Brigitte Hutt 2020