Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Ich war's nicht

Stellvertreter

Ich war's nicht.

Einer der Lieblingssätze der Menschen, und er treibt eigenartige Blüten. Kinder sagen ihn, wenn sie für etwas nicht bestraft werden wollen - und in der Regel bedeutet er, dass der Sprecher oder die Sprecherin sehr genau weiß, dass er oder sie es in der Tat "war".

Was sagt uns das über die Erwachsenen?

Gern genommen (ich zitiere): "Das Internet sät Hass." - Ah, ja? Das Internet kann gar nicht säen, es ist ein passives Werkzeug - wer da sät, sind die, die dort Material, Informationen, Gerüchte, Aufrufe einstellen, sind die, die dort ihren Hass vertreiben. Die Menschen, die Hassenden. Und die, die es weiterverbreiten, die froh sind, "es nicht gewesen zu sein"; aber nun, da der Hass schon mal unterwegs ist, macht man sich ja keines Vergehens schuldig, wenn man darüber informiert.

"Ich war's nicht", ist der Kernsatz von Beschuldigungen, die vom Beschuldigenden ablenken sollen. Sie kennen alle den Satz, dass der Bote für die Botschaft erschlagen wird. Das geschieht, weil der Mensch auf Negatives reagieren will, und wenn er nicht den oder die Verursacher zu fassen bekommt, wird ein Stellvertreter erschlagen (es darf auch, politisch korrekt gegendert, eine Stellvertreter*in sein).

Und wieder einmal sind wir beim Hauptthema des Jahres 2020. Es ist November, die Infektionszahlen steigen - und wen erschlägt man in der allgemein wachsenden Angst?

Die Politiker. Sie sind schuld am neuen "Lockdown", sie sind schuld, wenn die Wirtschaft zugrunde geht, sie sind schuld … woran? An den Infektionszahlen? Die, die schon Fusseln am Mund haben wegen ihrer beständigen Mahnungen zu Abstand und Vernunft, sie sind schuld? Klar sind sie, denn wir anderen waren es ja nicht.

Die Infektionszahlen steigen ungefähr seit September. Zuerst "waren es" die Urlaubsrückkehrer, vorzugsweise nicht unsere braven Pauschaltouristen, sondern die Fremdarbeiter, die in der Heimat mal die Sau rauslassen wollten und infiziert zurückkamen. Dann waren es die jungen Leute, die ungehemmt Party machen mussten. Und nun, hurra! Wir können endlich, endlich die kalte Jahreszeit als Schuldigen ausmachen, obwohl die Infektionszahlen schon ungeahnte Höhen erreicht haben, als der Oktober noch golden war. Da man die Monate aber nicht schlagen kann, müssen die Politiker herhalten, denen ohnehin nichts anderes übrig bleibt als zu reagieren, und, der allgemeinen Unsicherheit geschuldet, zu 50 Prozent falsch.

Wir dagegen, wir waren es nicht. So können wir über dem Stammtisch die Köpfe zusammenstecken und über Fremdarbeiter, Jugend und Politiker räsonieren, denn wir wissen Bescheid.

Über den Stammtischen, im Vereinslokal, bei Familienfeiern, überall, wo es kuschelig ist, stecken wir die Köpfe zusammen, mit Menschen unseres Vertrauens, die dann hingehen und dasselbe mit anderen Menschen ihres Vertrauens tun. Und wir alle waren es nicht.

Neulich (es war noch September) habe ich auf einer öffentlichen Terrasse gesessen und versucht, zwei mir Fremde höflich um Distanz zu bitten. Warum, war die Antwort, wegen dem Scheiß-Corona? Die Aggression in der Frage war fast greifbar (die Diskussion über Dativ und Genitiv überlasse ich dem Leser und der Leserin). Ich gebe zu, ich war froh, meinen Wunsch auf das Rauchen der Herrschaften und meine Unverträglichkeit damit zurückführen zu können, eine gesellschaftlich inzwischen anerkannte Indisponiertheit. Aber ein wenig feige war es schon. Dass ich keine Lust auf Stellvertreterdiskussionen oder gar Verschwörungstheorien hatte. Die eigentlich auch nur Stellvertreterdiskussionen sind - ich war es nicht, meinesgleichen waren es nicht - dann müssen es wohl Außerirdische gewesen sein, oder die Medien ("das" Internet) machen uns wieder mal etwas vor. Hauptsache:

Ich war's nicht.



© Brigitte Hutt 2020

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