Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Tagebuch eines Abstandhalters

Am ersten Tag

ging es ja noch. Ich war allein in meiner Wohnung. Fünfundvierzig Quadratmeter, Bad und Flur miteingerechnet, das ist genug Abstand. Zu allen und allem. Mein Reich.

Am zweiten Tag

war das Brot aus. Ich beschloss, ein wenig zu fasten und am nächsten Morgen ganz früh, als erster Kunde, in die Bäckerei zu springen. Da wäre ich sicher noch hinreichend allein.

Am dritten Tag

war ich erschöpft. Von wegen allein! Die gesamte Nachbarschaft kam offensichtlich gleich nach Ladenöffnung. Wir standen den ganzen Block entlang, ich mittendrin. Das Aufrücken ging furchtbar langsam, und der Typ hinter mir näherte sich dauernd auf weniger als die vorgeschriebenen einsfünfzig, das war offensichtlich. Also musste ich stets auch ein wenig weiter vor. Grässlich!

Am vierten Tag

ging auch noch einiges andere aus. Ich dachte an meine Mutter, die mir eingeprägt hatte, immer von allen wichtigen Dingen (Kaffee, Tee, Gemüsekonserven, Toilettenpapier) Vorräte anzulegen - als ob sie es geahnt hätte!

Am fünften Tag

hatte ich eine Idee. Ich ging aus dem Haus, und zwar mit einem Besenstiel. Den hielt ich quer vor meiner Brust, mal mehr nach rechts, mal mehr nach links, notfalls auch nach vorn. Es war begeisternd zu sehen, wie alle auswichen. Auch wenn sie schimpften. Mir doch egal, ich hatte Abstand.

Am sechsten Tag

wurde das Wetter schön, so schön, dass es mich schier ins Grüne drängte. Aber wozu habe ich einen Balkon! Der ist zwar winzig, aber draußen ist viel Abstand. Ich wohne im zweiten Stock. Also kochte ich mir einen Tee, stellte draußen einen Klappstuhl auf und ließ mich behaglich nieder. Mein Reich.

Am siebten Tag

bemerkte ich, dass etliche Nachbarn wohl die gleiche Idee gehabt hatten. Ringsumher hörte ich Geplauder, roch Gegrilltes. Als der Nachbar, dessen Balkon rechts an meinen angrenzt - wenig Abstand von Gitter zu Gitter, wohlgemerkt - mit seiner Zigarette hinaustrat und dann noch das Husten anfing, da war es mit meiner Geduld vorbei. Ich beugte mich hinüber, langte nach seinem Glimmstengel, er trat empört einen Schritt zurück, schrie "Abstand halten!" - da verlor ich das Gleichgewicht und raste auf den Rasen zu, mit sich verringerndem Abstand.

Nun liege ich hier im Streckbett, die überlasteten Pflegekräfte kommen ab und zu vorbei, gut in Schutzkleidung und Masken eingepackt, und ich werde versorgt. Aus dem Haus muss ich nicht mehr, kann ich nicht mehr. Mein Reich.

© Brigitte Hutt April 2020

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