Das Tagebuch des Danach
Tag 1
Es tut weh. Das ist gelinde ausgedrückt. Atmen. Flach atmen, sonst tut es noch mehr weh. Ich befehle der rechten Hand, sich zu heben. Ins Gesicht zu fassen, aber vorsichtig. Verband, alles verbunden. Was heißt das nun? Die Operation hat stattgefunden, ich habe Schmerzen, mein Gesicht ist verbunden. Für den Moment ist alles gut. Mehr Denken verbiete ich mir.
Tag 2
Wenn die Schwestern hereinschwirren und mich bemuttern, ist das nett, aber anstrengend. Sie sind freundlich. Ich sehe sie durch die schmalen Augenschlitze, die mir die Verbände lassen. Essen geht noch nicht wirklich; ich bekomme einen Trinkhalm in den Mundschlitz und nehme damit wer-weiß-was auf. Aber es sättigt.
Carl Connersen. Professor Doktor Carl Connersen. Ich habe ihn seit der Operation nicht mehr zu Gesicht bekommen. Kennen gelernt habe ich ihn letztes Jahr, auf einem Selbstfindungsseminar. Daran habe ich teilgenommen, weil mich interessiert hat, was man da macht. Pure Langeweile, sozusagen. Er? Warum hat er teilgenommen? Er hat doch alles, was man so braucht. Karriere, Geld, eine schöne Frau. Klara. Er hat mir ein Foto gezeigt. Ich war damals an einfach allem interessiert, alles, was zur Selbstfindung gehört. Mir ging es gut, eigentlich, ja, aber - ich wollte einfach wissen, was das ist, sich selbst zu finden.
Wir sind dann ins Gespräch gekommen. Er, Schönheitschirurg, Koryphäe auf seinem Gebiet, war unzufrieden, suchte, ja suchte wohl sich selbst. Ich, in der Lebensmitte, war eigentlich zufrieden, aber immer auf der Suche nach Neuem. Ich habe zu ihm gesagt, dass ich nicht verstehe, was sein Problem ist, einer wie er, der alles hat. Karriere, Geld, eine schöne Frau. Auch zwei wohlgeratene Kinder, wenn man dem Foto glauben darf. Im Gegensatz, na ja, fast im Gegensatz zu den meinen. Ich bin so müde.
Tag 3
Nach dem Frühstück - wenn man den Morgentrunk denn so nennen mag - bin ich immer völlig erschöpft. Nach einer Nacht voll unruhigen Schlafs, weil ich mich nicht einmal auf die Seite legen kann ohne Schmerzen, überwältigt mich zuerst der Hunger, dann quäle ich meinen Mund auf das Fassen des Halms und das Saugen, dann reicht es mir für Stunden. Genau in diese Phase kam er herein, Carl. Wir duzen uns ja bei diesen Seminaren. Er hat mich befragt, und ich weiß nicht einmal, was ich geantwortet habe. Aber er schien zufrieden zu sein. Sie haben die Verbände gelöst, nicht ohne Schmerzen für mich, er hat die Nähte oder was immer begutachtet, genickt, sah zufrieden aus, neue Verbände, fertig.
Damals, damals hat er gesagt, diese Tätigkeit, also Menschen das Aussehen zu geben, das sie sich ersehnen, das sei ihm immer ein Bedürfnis gewesen. Menschen glücklich machen. Seine Frau sei so schön, so schön, dass er an ihr seine Tätigkeit, sein Genie gar nicht einsetzen könne, aber es sei eine Gnade, eine so schöne Frau zu haben.
Ich habe ihm erwidert, ein wenig schmunzelnd, ein wenig verwundert, dass ich das gar nicht verstehe, wieso jemand nicht einfach aus seinem Aussehen das Beste mache, mit Kleidung, MakeUp, mit Haltung, Mimik, mit allen Regeln der Kunst. Sicher, hat er gesagt, aber mitunter seien diese Regeln eben nicht ausreichend, und dann sei seine, Carls, Kunst gefragt. Dabei hat er mich so angeschaut, musternd, fachmännisch. Mir wurde heiß und kalt. Gut, ich war fünfzig, die ersten Falten, die Gesichtszüge und vor allem der Hals erschlafften, aber das gehörte doch dazu! Das machte doch erst die Persönlichkeit. Ich habe ihn spöttisch gefragt, wie denn seine Patienten ihr Leben sähen, und ob sie wirklich meinten, dass besseres Aussehen ihre Probleme löste.
Tag 4
Die Schmerzen lassen nach, Gott sei Dank. Die täglichen Verbände werden leichter. Ob ich arg unleidlich bin? Die Schwestern lächeln professionell, aber Carl kommt so selten wie möglich vorbei.
Damals, auf dem Seminar, am letzten Tag, da waren wir uns fast nahe. Er hat mir, fast nur zwischen den Zeilen, zu verstehen gegeben, dass seine Frau sich kaum mehr für ihn interessiert, dass sie vermutlich nur dem guten Ruf zuliebe bei ihm bleibt, und ich habe die Tränen in seiner Stimme gespürt. Im Gegenzug habe ich ihm anvertraut, dass mir mein Gesicht jeden Morgen fremder vorkommt, dass ich mitunter meine, meine Mutter mit 70 im Spiegel zu sehen, was mich eher erschrecke als erfreue.
Er hat erwidert, dass er meine Probleme lösen könne, ich aber nicht seine.
Tag 5
Heute lösen sie die Verbände endgültig. Ich habe Carl vertraut, was mein Gesicht angeht, was er daraus macht, ich wollte nur nicht mehr aussehen wie meine Mutter, einfach nur wieder jünger und lebendiger. Jetzt bin ich aufgeregt wie vor meinem ersten Date.
Eine Frau kommt herein. Es ist Frau Doktor Laurenz, Carls engste Mitarbeiterin. Was will sie? Sie setzt sich auf meinen Bettrand und erzählt mir, was ich doch schon weiß. Die Narben der Nähte bleiben noch eine Weile, es wird noch eine kleine Nach-Operation geben, ich werde mich erst gewöhnen müssen, und so weiter und so fort.
Wo ist Carl? Wo ist die Koryphäe?
Frau Doktor Laurenz lächelt. Beruhigend. Eine Schwester kommt herein, fängt an, die Verbände zu lösen. Bei jeder Bewegung, bei jedem Stück Enthüllung meines Kopfes werden die beiden Gesichter mir gegenüber ernster. Ist etwas schief gegangen? Was ist schief gegangen? Als die Schwester fertig ist, wechseln die beiden Frauen Blicke. Ich möchte sie fragen, aber ich bringe vor Aufregung kein Wort heraus. Außerdem tut es noch weh, wenn ich meine Gesichtszüge bewege, wenn ich sprechen will.
Die Tür öffnet sich. Carl, Professor Doktor Carl Connersen, tritt ein. Mit ernster Miene. Jetzt, jetzt wird er zugeben, was schief gegangen ist. Blödsinn, Selbstfindung, von wegen Koryphäe.
Er tritt auf mich zu, nimmt meine Hand, immer noch ernst. Tränen in seinem Blick. Er reicht mir einen Handspiegel. Ich schlucke und blicke tapfer hinein.
Wer ist das? Ich blinzele, was noch schwer fällt. Das Gesicht habe ich doch schon mal gesehen?
"Klara", sagt er.
© Brigitte Hutt 2018