Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Weltkugel (Wittenberg)

Unwort

Das Küren des jeweiligen "Wortes" und auch des "Unwortes" des Jahres ist eine eigene Tradition geworden. Ich würde das gern übertreffen mit dem Unwort des Jahrhunderts - gern auch des Jahrtausends, aber ich fürchte, solange lebt es dann doch nicht.

Mein Unwort des Jahrhunderts ist: Christliches Abendland. Und diesen Begriff möchte ich jetzt ein wenig abklopfen. Subjektiv, nicht wissenschaftlich, es geht mir nur darum, was er bei mir auslöst, warum er mein Unwort ist.

Zunächst einmal natürlich, weil das Christentum nicht aus dem Abendland stammt noch genuin mit ihm verbunden ist, schon gar nicht ausschließlich. Sie meinen, liebe*r Leser*in, Rom und der Vatikan liegen in Europas Mitte? Die erste, wesentliche (!) Ausprägung des etablierten Christentums ging von Byzanz aus. Wer das nicht mehr verorten kann: Türkei. Off Limits. Orient.

Vor allem aber ist es mein Unwort, da der Begriff nur erfunden wurde und nur benutzt wird, weil er ausgrenzen soll. Er wird nämlich nur von denen benutzt, die sich darin zuhause fühlen. Ausgrenzen soll er gleich in doppelter Hinsicht, so wenig das auch Sinn macht: Zu uns gehören nur Christen, und zu uns gehören nur solche Menschen, die im Abendland zuhause sind - mit dem schönen Nebeneffekt, dass dieses so genannte Abendland ja gar nicht streng definiert ist und damit die Grenzen fließend jeweils dort gezogen werden können, wo es dem Benutzer oder der Benutzerin des Wortes gerade passt. Europa ist gemeint? Oder gern dazu auch alles westlich davon? Nur, wo ist die religionsspezifische "Datumsgrenze", über die man, fährt man gen Westen, wieder den Osten erreicht? Also umzukehren hat, um das christliche Abendland nicht zu verlassen?

Und dann das "zu uns". Wer ist dieses Wir? Wer erlaubt sich, das zu definieren? Ich persönlich fühle mich davon vereinnahmt, will gar nicht zu diesem Wer-auch-immer-Wir gehören. Und ich bin mir sicher, die meisten von denen, die sich davon durchaus angesprochen fühlen, sehen in diesem Wir sehr unterschiedliche, sehr individuelle Gebilde. Wir Europäer? Wir Deutschen? Wir Bayern? Meine Gemeinde? Meine Familie? Alle, die denken wie ich - aber wie will ich das denn herausfinden, ich kann es doch höchstens vermuten - und somit schon wieder vereinnahmen.

Das ist mein Unwort: ein Begriff, der zugleich vereinnahmend und ausgrenzend ist und damit Sprengstoff für alle Seiten. Perfekter Humus für jedwede Verschwörungstheorie.

Werfen wir einen Blick auf die Menschen der Gegenwart, die diesen Begriff benutzen, nicht nur als Waffe, sondern oft auch schlicht beschreibend (ohne darüber nachzudenken, was er beschreibt oder eben auch nicht). Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit Mikrofon bewaffnet durch eine Fußgängerzone welcher deutschen Stadt auch immer und fragen, ob die Passanten sich dem christlichen Abendland zugehörig fühlen. Ich denke, die meisten werden das bejahen (lassen Sie einfach, wie es so oft geschieht, die ein wenig orientalisch aussehenden aus). Und nun fragen Sie weiter, was denn das Christentum ausmacht. - Hmm. Da wird es schon schwieriger. Dass Weihnachten das Fest der Familie ist, weswegen man da mit der eigenen Familie zusammenkommt? - Was ist der Ursprung des Festes, fragen Sie nun. Sicher wird da noch oft das Christkind genannt. Immerhin bringt das die Geschenke. Was das Christkind mit dem Christentum zu tun hat? Na ja, das Christentum gibt ihm doch den Namen.

Liebe Leserinnen und Leser - keine Fragen, keine Einwände? Sie sehen das genauso? Dann ist das Christliche Abendland für Sie sicher kein Unwort. Vielleicht mögen Sie diese Lektüre ja hier beenden.

 

Für alle anderen: Zurück in die Fußgängerzone. Sie bitten Ihre Passanten noch um ein paar Minuten und fragen, was denn im Rest des Jahres das Christentum ausmacht. - Ach ja, wird er oder sie sagen, da ist doch eine Menge. Die schönen alten Kirchen, und die Glocken sonntags. Obwohl - manchmal nerven die auch, wenn man ausschlafen will. Und auf dem Lande die hübschen Prozessionen. Und die Taufe und die Hochzeit in der Kirche. Das ist doch einfach anrührend. Gehört zu unserer Kultur. Und vor allem die christliche Aussegnung nach dem Tode. Denn - man weiß ja nie, ob das nicht doch was bringt.

Gehen Sie in die Kirche? Beten Sie? - Ach wissen Sie, schon lange nicht mehr. Das legt man doch ab mit dem Erwachsenwerden.

Eines noch, lieber Passant, liebe Passantin. Können Sie mir noch zwei weitere christliche Feste im Jahreskreis nennen? - Nun ... Ostern, nicht wahr? Und ... ähm ... Pfingsten?

Ja, prima! Und was feiern wir da? - Ach, wissen Sie, das sind doch alles so alte Bräuche. Man feiert eben. Und es gibt ja auch noch die alten Leute, die da in die Kirche gehen. Und man macht sich Geschenke. Also zu Ostern. Und Pfingsten, das eröffnet die Urlaubssaison, und Urlaub machen ist doch ein tiefes menschliches - und damit auch christliches Bedürfnis. Man reist in ferne Länder, weil man sich für den Mitmenschen interessiert. So ist es doch.

Aber fremde Menschen, die können Sie doch hier auch erleben! - Ähm ... ja. Aber hier sind sie doch eher ... Fremdkörper. Man will sie doch sehen, wie sie in ihrer eigenen Kultur leben.

Verlassen wir die Passanten. Die Passantinnen auch, die schenken einander nichts.

Sollen wir jetzt daraus schließen, dass das Christliche darin besteht, den eigenen Lieben etwas zu schenken, dagegen Fremde wie Zootiere zu anzusehen? Ist es das, was Christus gelehrt hat, auf den wir ja - ich schätze, wenigstens das wird noch ein wenig memoriert - den Namen Christentum zurückführen?

Und ich dachte, derart koloniale Weltbilder wären in der Mitte des vorigen Jahrhunderts allmählich erloschen.

 

Werfen wir, nur zum Vergleich, einen kurzen Blick auf die Religionen, denen wir uns durch Abraham verbunden fühlen.

Können Sie sich in deren Sprachgebrauch ein Muslimisches Morgenland oder ein Jüdisches Jordanland (verzeihen Sie die Spielerei mit Alliterationen) vorstellen? Jede alt-etablierte Religion hat ihre in Stein gemeißelten, nicht zu hinterfragenden Fundamente, darunter auch genügend fragwürdige, verletzende. Das in Frage zu stellen ist Sache der jeweiligen Religionsangehörigen. Aber sie sind einfach, sind einfach Muslime, sind einfach Juden, und das scheint ein Punkt zu sein, der den Christen ein ständiger Stein des Anstoßes ist. Weil jene es (noch) sind? Sich nicht ab- und eingrenzen müssen, um zu sein?

Meinem Unwort setzt es noch ein Sahnehäubchen auf, wenn wir als urchristliche Elemente Dinge einordnen (oder vereinnahmen), die in Wirkklichkeit aus anderen Religionen oder Kulturen übernommen sind. Die Feindesliebe - steht schon in der hebräischen Bibel. Die Würde des Fremden - im jüdischen und islamischen Wertekanon steht darüber mehr als in unserem (der dabei schlicht auf den jüdischen verweist).

Warum habe ich eingangs geschrieben, "ich fürchte", dass der Begriff Christliches Abendland das Jahrtausend nicht überlebt? Warum nicht, "ich hoffe"? Nicht, weil dieser Spuk dann vorbei sein könnte zugunsten eines besseren - eines im Ursprung christlicheren - Miteinanders, nein, einfach weil ich fürchte, dass dann die Menschen (wenn es sie dann noch gibt) soweit von jeglicher Religion entfernt sind, zumindest die abendländischen Menschen (die, die sich dafür halten), dass sie für Begriffe wie "christlich" gar keine Verwendung mehr haben.



© Brigitte Hutt 2021
PS: Das Unwort des Jahres 2021 (für mich): Impfangebot

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