Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Eidechse

Vollmond

Früher, so um die Jahrtausendwende, bin ich im Herbst gern für eine Weile nach Südtirol gefahren. Diese wunderbare Mischung aus alpiner und mediterraner Flora, der Blick auf Bergspitzen im Schnee, mit der wärmenden Spätsommersonne im Gesicht, das war für mich Genuss pur. Von Wein, Speck und Käse am Abend gar nicht zu reden. Untertags, bei meinem Wanderungen durch Wein- und Obsthänge, freute ich mich an Vögeln, Bienen, Schmetterlingen und vor allem: an Eidechsen.

An jeder sonnigen Bruchsteinmauer strömten sie in Scharen hinauf, hielten inne, um die Wärme zu genießen, verschwanden in Spalten, wenn sie den Wanderer erspähten, zogen weiter nach oben. Jeden Morgen, jeden Mittag - immer zogen sie nach oben. Wann kommen sie wohl wieder herunter, habe ich mich oft gefragt, dann aber über einem guten Roten das Rätsel schnell wieder vergessen.

Wieder einmal kam ich von einer Wanderung zu meiner Pension zurück und beobachtete an der Mauer, die den benachbarten Weinhang nach unten hin abschloss, die schlanken, gelenkigen Tierchen, wie sie lautlos von Stein zu Stein huschten, je nach Untergrund ein wenig die Farbe wechselten, oben angekommen im Gras verschwanden. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine Bewegung, schaute auf und in das lächelnde Gesicht meiner Wirtin.

"Einen Teller Suppe mit Knödel?", fragte sie freundlich.

Ich nickte, gedankenverloren, und fragte spontan zurück: "Wann kommen sie wieder herunter?"

Sie schüttelte verdutzt den Kopf. "Wie meinen Sie, bitte?"

"Die Eidechsen. Ich sehe immer nur, wie sie hinaufkriechen. Jeden Tag. Wenn das nicht jedes Mal Neugeborene sind, müssen sie doch auch wieder herunter!"

Sie lachte schallend und blickte prüfend zum Himmel hinauf.

"Natürlich kommen sie wieder herunter", antwortete sie dann in ihrem singenden Tirolerisch, "aber in der Nacht, wenn wir es nicht bemerken."

"Sehen sie denn in der Nacht?", fragte ich weiter.

"Der Mond leuchtet ihnen", sagte sie, immer noch lachend. "Kommen Sie, essen Sie erst einmal!"

Ich folgte ihr auf die sonnige Terrasse und ließ es mir gut gehen.

Aber die Sache ging mir nicht mehr aus dem Kopf. In zwei Tagen musste ich heimfahren, und ich wollte einmal, nur einmal, die Eidechsen herunterkommen sehen.

Am Abend fasste ich dann einen Entschluss. Wenn die Sonne unterging, wurde es schnell empfindlich kühl. So hüllte ich mich in Pullover, Schal und Anorak und stieg den Pfad längs es Weinbergs hinauf. Die Lichter des Dorfs blieben zurück, und ich brauchte eine Weile, bis ich mich im Mondschein orientiert hatte. Dann kletterte ich über einen kleinen Zaun und tauchte zwischen die Rebreihen, tastete mich behutsam an Streben und Aufbindungen entlang im Zickzack wieder hinunter, bis ich auf dem breiten Grasstreifen ankam, an dem die Rebsträucher endeten. Hier musste die Mauerkrone sein.

Vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, ging ich den Streifen entlang. Richtig, hier schimmerten Steine im Mondlicht. Ich suchte mir eine Stelle, an der man die bleiche Oberfläche einiger Steine deutlich sah und ließ mich im Gras nieder.

Der Mond stand groß und voll am Himmel. Ich musste schmunzeln, als ich sein von Kratern gebildetes "Gesicht" betrachtete. Kein Wunder, dass er früher Thema für vielerlei Märchen und Mythen war. Runzelig und, ja, ein wenig missmutig schaute er auf mich herab. Keine Bange, alter Mond, sprach ich ihn in Gedanken an, ich will dein Reich nicht stören, nur ein wenig beobachten.

Verzog sich sein krakeliger Mund zu einem leichten Lächeln? Ich schüttelte den Kopf über meine Fantasien und begann, meine Umgebung mit den Ohren zu erkunden.

Rascheln. Mäuse? Zu sehen war nichts. Dafür kribbelte es jetzt auf meinem Handrücken - eine Ameise war noch unterwegs. Ich schüttelte sie ab, sie fiel auf einen Mauerstein und krabbelte dort weiter.

Langweilig war es, mir wurde kalt, Müdigkeit drückte auf meine Augenlider. Ich riss die Augen krampfhaft auf und schaute wieder zum Mond auf. Er war ein Stück weiter gewandert, und auch seine Augen waren inzwischen halb geschlossen.

Was für interessante Lichteffekte, dachte ich, da riss er plötzlich die Augen weit auf, und zwei funkelnde Pupillen starrten mich an. Ich schrak zusammen. War ich etwa eingenickt? Wieder schüttelte ich meinen Kopf, schüttelte den Blick des Mondes ab und blickte lieber wieder auf die weißlich schimmernden Mauersteine.

Da saß sie. Schlank, silbrig, mit dem typischen Zackenmuster, der Atem heftig pulsierend in ihrem Hals. Die Schwanzspitze zuckte gelegentlich, die Äuglein schauten aufmerksam nach allen Seiten. Ich wagte kaum zu atmen. Schön war sie, und irgendwie auch geheimnisvoll. Eidechse im Mondlicht - nur schade, dass ich die Kamera nicht eingesteckt hatte.

Sie ruckte zu mir herum, wandte mir den Kopf zu. Ich saß ganz still, und wir schauten uns in die Augen. Wie gebannt fühlte ich mich. Nach einer Weile schien sie mit der Musterung meiner Person fertig zu sein und drehte sich wieder zur Seite, so dass ich ihren silbrigen Leib der Länge nach betrachten konnte. Ihr Atem ging nun deutlich langsamer, ruhiger, und sie machte Bewegungen, die mir wie eine Art Schulterrollen vorkamen. Dann senkte sie den Kopf ganz tief auf den Stein, als wollte sie fressen. Aber da war nichts, nur Mondlicht.

Langsam hob sie den Kopf wieder, hob ihn so hoch, wie sie vermochte, schien tief einzuatmen, und beim Ausatmen stieß sie kleine Wölkchen aus ihren winzigen Nüstern.

War es denn so kalt? Und atmeten Eidechsen tatsächlich Wölkchen aus, war ihr Atem denn so warm? Sie schien mir auch irgendwie größer auszusehen jetzt, aber das lag vielleicht an dem wandernden Mondlicht und dem langen Schatten, den das Tierchen nun warf.

Wieder bewegte sie ihre Schultern in einem langsamen Rollen, und da - mir stockte der Atem - entfalteten sich zuckend zwei silberweiße, fast durchsichtige Flügel. Flügel auf dem Rücken der Eidechse.

Sie drehte sich erneut zu mir um, schnaubte leise, und zwei Wölkchen strömten aus ihren Nüstern auf mich zu. Dann breitete sie die Flügel in einer anmutigen Bewegung aus, streckte die Vorderpfoten und - erhob sich langsam in die Luft, winzige Stichflammen ausstoßend.

Was dort auf der Mauerkrone weiter geschah, kann ich nicht berichten. Ich weiß nicht mehr wie ich es geschafft habe, zwischen den Reben hinaufzustolpern und den Weg zurück zur Pension zu finden. Schlaf habe ich in dieser Nacht keinen mehr gefunden, beim geringsten Geräusch bin ich zusammengefahren. Am nächsten Tag bin ich abgereist und seitdem nie wieder in dieser Gegend gewesen.

© Brigitte Hutt Oktober 2015

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