Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Utøya: Beileidsbekundungen am Ufer des Tyrifjord nach dem Attentat (Quelle Wikipedia)

Der weite Weg vom Denken zum Tun

Im Jahr 2023 wird wieder mal ein schwieriger Jahrestag begangen: 90 Jahre Machtergreifung. Wessen Macht da gemeint ist, ist uns noch (!) allen klar. Was da alles an Themen aufzuarbeiten ist - wie konnte es dazu kommen, wie konnten die Massen mitgerissen werden, wie war die politische Situation, wie kam es zur Katastrophe etc., und nicht zuletzt: die Rolle der Kirche(n) - kann man in den Programmen diverser Akademien und anderer Einrichtungen bald nachlesen.

Medien und Wissenschaftler*innen besprechen diesen Jahrestag in jedem Jahr sehr vorsichtig und fast entschuldigend. Von der damals "schwachen" Demokratie (im Gegensatz zur heutigen) ist die Rede, und davon, dass "man" ja damals noch gar nicht die Folgen habe absehen können. Allerdings auch davon, dass es viele Mahner gab, die durchaus schon das richtige Gespür für das nachfolgende Grauen hatten.

Oft ein wenig aus dem Blick gerät die Frage: Wie und wieso gehört dieser Themenkomplex in mein Leben?

Sicher kann ich zu politischen Tagungen fahren und dort mein Wissen erweitern oder aus meinen eigenen Erfahrungen und Recherchen etwas beitragen zur Aufarbeitung, aber - ist die Aufarbeitung dann "abgeschlossen"? Genau diese Formulierung begegnet einem, auch und gerade von politisch interessierten Menschen. Was macht man dann damit? Buch zuklappen, Ende?

Jedoch - ist sie jemals abgeschlossen? Sollten wir diese Jahrestage nicht immer und immer wieder dazu benutzen, uns zu fragen: Kann etwas Vergleichbares nicht jederzeit wieder geschehen, auch uns in unserer Welt geschehen, und wie würde es sich heute darstellen? Würden wir die Anfänge, gegen die wir uns stemmen sollten, überhaupt erkennen, oder würden wir, wie manche Intellektuelle damals, nur sagen, in einem halben Jahr sei der Spuk sicher vorbei?

Nehmen wir den Fall Utøya (ich hoffe, Sie erinnern sich noch): Schrecklich, aber weit weg. Nehmen wir den Fall NSU (ich vermute, Sie erinnern sich noch): Die fast unglaubliche Wahrheit, dass mitten in unserer Gesellschaft brutale Verbrechen gegen Ausländer*innen, rechtsradikal motiviert, stattfinden konnten, lange Zeit ungelöst blieben, als Einzelfälle wahrgenommen wurden - wie gehen wir damit um? Die öffentlichen Diskussionen drehen sich vor allem um die Ermittlungspannen, um gravierende Fehler des Verfassungsschutzes, um Verbote, und bei all diesen (nicht unwichtigen) Fragen kann jede*r rechtschaffene Bürger*in gut etwas beitragen. Aber wann gehen wir in uns und denken darüber nach, dass es in unserer Mitte passieren konnte? Dass dieses Gedankengut bedrückend präsent ist, und dass das nicht "weit weg" der Fall ist, sondern tatsächlich mitten unter uns? Hören wir unseren Kolleg*innen, Nachbar*innen, Stammtischfreund*innen, Vereinsbrüdern und -schwestern, ja sogar uns selbst doch einmal etwas sensibler zu: Ist es nicht tausendmal schlimmer, wenn eine Susanne Osthoff von Muslimen entführt wird (erinnern Sie sich?), als wenn ein türkischer Muslim in unserer Stadt ermordet wird? Zumindest entfachte der erstere Vorfall erheblich heftigere Reaktionen.

Die öffentlichen Diskussionen suchen vor allem den oder die Schuldigen. Und dann - Fall erledigt, Buch zuklappen. Es war ja jemand anderes, es waren "die anderen". Nicht ich, nicht wir.

Schon richtig. Wir sind nicht alle rechtsradikal, wir sind nicht alle ausländer*innenfeindlich, aber die Gefahr, in der einen oder anderen Diskussion dorthin auszurutschen, besteht immer und (fast) bei jedem, manchmal einfach durch Schweigen im falschen Moment; und ich nehme mich selbst da ausdrücklich nicht aus. "Wir sind alle Sünder" - so singen wir Christ*innen (oder sangen zumindest früher) in manchem Kirchenlied. Das ist - mal anders als üblich betrachtet - gar kein so dummer Gedanke: Ich muss nicht von mir sagen, dass ich ein schlechter Mensch bin, aber dass ich gefeit bin gegen Sünden, das mir so etwas nicht unterlaufen kann, das kann ich auch nicht sagen.

In diesem Sinne sollten wir die Gräueltaten des NS-Regimes und der damaligen Gesellschaft (ja, auch der) betrachten und sollten solche Gedenktage nutzen, uns zu fragen: Wie gehe ich mit meinen Mitmenschen um? Mache auch ich Unterschiede? Habe ich meine eigene verinnerlichte "Arier versus Juden"-Unterteilung, bzw. - in heutiger Sicht - mein "Wir versus Die", "das Eigene versus das Fremde"-Unterteilung, und wenn sie noch so klein und unauffällig ist? Das sollte in diesen Gedenkjahren passieren (von Jubiläum, in dem ja "jubeln" steckt, sollten wir vielleicht nicht reden), dazu sollten Akademien Tagungen, Lernorte anbieten, dann wäre ein Schritt in die Zukunft getan, der nicht "Aufarbeitung" heißt, sondern Gesellschaftsgestaltung.

Leider gibt es aber so etwas wie "Seminareuphorie": Wir fahren auf gut vorbereitete Tagungen zu einem brisanten Thema, genießen den Tagungsort, das Treffen und Diskutieren, arbeiten intensiv und fast berauscht an dem Thema, und dann fahren wir gesättigt und zufrieden zurück in unseren Alltag. Wieder einmal haben wir in der behüteten Atmosphäre unter Gleichgesinnten ein ordentliches Stück Arbeit erledigt, das tut gut. Aber gehen wir noch einmal in uns: Was bleibt? Was von diesem Hochgefühl unter Gleichgesinnten nehmen wir mit in den Alltag, was ändert unser Verhalten? Wie gehen wir - sagen wir, vier Wochen später - mit dem Müll im Treppenhaus um, der "sicher wieder von den Türken im Erdgeschoss ist", und was tun wir, wenn da jemand im Kreis von Kolleg*innen "Kopftuchgeschwader" sagt oder "Gesocks"? (Diese Begriffe habe ich mir nicht ausgedacht.)

Oft entsteht das Gefühl (und ich nehme mich wieder nicht aus), zwischen dem Tagungsort und dem Heimatort, dem Alltag liegt ein großer Graben, und wenn wir den auf der Rückfahrt überschritten haben, plumpst da ganz viel von der soeben geleisteten Arbeit hinein, und weiter fährt ein zwar um Wissen, aber nicht um Bereitschaft zum Handeln reicherer Mensch. Was verschenken wir da an Potenzial!

Es gibt in vielen Projekten, gern in der Jugendarbeit, den Brauch, sich selbst zum Abschluss eines Projektes oder - in unserer Betrachtung - einer Tagung einen motivierenden Brief zu schreiben, den dann die Tagungsleitung zu einem späteren Zeitpunkt an die Teilnehmenden verschickt, sodass man, fern im zermürbenden Alltag, noch einmal die Motivation der Tagung vor Augen hat. Schreiben wir uns doch selbst so einen Brief, immer wieder einmal. Setzen wir es in unseren Terminkalender. Halten wir uns wach, sodass das Gelernte ab und zu in unserem Alltag auftaucht, sodass wir wach bleiben und die Anfänge des Schreckens, wie auch immer sie beim nächsten Mal aussehen mögen, erkennen und - nicht schweigen, sondern handeln, jede und jeder aus eigenem starken Bewusstsein für das Richtige und für die Verantwortung der*des einzelnen, gerade des Christen und der Christin, für die Gesellschaft.


© Brigitte Hutt 2022

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