Warten ...
Was tun Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in diesen Jahren 2020/2021? Alle Verordnungen tapfer einhalten oder "querdenken", selbst entscheiden, was (Ihrer Meinung nach) vernünftig ist? Sicher ist der zweite Weg verlockend, denn mit etwas Nachdenken können Sie sich zwar sagen, dass Sie als Einzelne*r nicht den Überblick über die Gesamtsituation haben, aber wenn Sie den Verlautbarungen der Politiker*innen lauschen - kommen Sie in punkto Gesamtüberblick derselben zu einem sehr ähnlichen Ergebnis. Also, was tun Sie, was tun wir, was tue ich? Warten. Es könnte sich ja etwas ergeben, ein Impffortschritt, Medikamente, kreativere Ideen zur Kontaktbeschränkung - oder womöglich mal eine Virusmutation, die weniger statt mehr ansteckend ist. So etwas hat es auch schon gegeben, nichts ist unmöglich. Klar ist nur eines: Wann sich etwas ändern wird, ist unklar. Also warten wir, so wie unsere Vorfahren auf den St.-Nimmerleins-Tag gewartet haben, warten wir auf den Corona-Ende-Tag. Ist der wahrscheinlicher als der des Heiligen Nimmerlein? Was wir erleben, ist das, was Samuel Beckett, herausragender Autor des so genannten Absurden Theaters, abendfüllend in seinem Stück "Warten auf Godot" beschreibt. Ich zitiere hier eine Kurzbeschreibung:
"Warten auf Godot" ist zu einem Synonym für langes und aussichtsloses Warten geworden. Die Handlung in Samuel Becketts Stück tritt auf der Stelle. Nichts passiert. Im Mittelpunkt steht einzig das Warten der Protagonisten. (https://www.inhaltsangabe.de/beckett/warten-auf-godot/)
Ich hab's auch mal angeschaut: Zum Warten kommt noch das Vergessen ... Das ist kurioserweise ein wenig wie bei unseren Politiker*innen, die Beschränkungen unbedingt auf möglichst kleine regionale Einheiten eingrenzen wollten, um nun eine "Bundesnotbremse" zu verabschieden, die Bundeseinheitlichkeit wollten, denen dann noch vor der Verabschiedung länderspezifische Abwandlungen vorausgehen.
Mehr und mehr gewinnen wir das Gefühl, Akteur*innen in einem Stück des Absurden Theaters zu sein - aber wann fällt endlich der erlösende Vorhang? Bei den Akteuren von Wladimir und Estragon, die auf den unbestimmbaren Godot warten, fällt er immerhin nach der Vorstellung; ein Ende ist, was die Realität des Theaters angeht, absehbar. Was die virtuelle Realität der Figuren Wladimir und Estragon angeht - da ist das Warten eine Projektion der Ewigkeit. Warten auf St. Nimmerleins Tag, auf Godot, auf ...
Was wir derzeit lernen, ist, dass keine literarische Fiktion absurd genug ist, um nicht Realität, bittere Realität werden zu können.
Was bleibt? Was bleibt zu tun?
Lernen wir, mit Absurdität zu leben. War das nicht schon immer so? Was war mit Versprechungen für das Ewige Leben, wenn das hiesige kaum auszuhalten ist? Was mit Versprechungen eines besseren Lebens nach einem Krieg, was in sich schon absurd ist, denn es verlieren immer alle? Oder allein schon die Vision eines "Endsiegs" - sicher erinnern Sie sich an dieses Wort! Alle diese Absurditäten prägten und prägen unser Leben.
Ich rede nicht dem Fatalismus das Wort, wie ihn Wladimir und Estragon ausstrahlen, nur der Gelassenheit, die uns vielleicht von unklugen Handlungen abhält.
Machen wir uns auch klar, dass es Situationen gibt, die weitaus schlimmer sind, zum Beispiel der nicht enden wollende Bürgerkrieg in Syrien. Machen wir uns klar, dass es nur die Dumpfheit und Lähmung der Situation ist, die uns bedrücken, nicht aber Bomben und Obdachlosigkeit. Machen wir uns klar, dass unsere Aussichtslosigkeit nicht mit der der Menschen in Kriegs- oder Katastrophengebieten zu vergleichen ist. Das rückt den Heiligen Nimmerlein nicht näher, aber vielleicht erlaubt es uns, einmal tief durchzuatmen (natürlich mit Abstand) und - weiterzumachen, wie absurd auch immer unser Warten sich gestaltet. Weder Godot noch der Vorhang zeichnen sich am Horizont ab, nur die Tatsache, dass die Welt sich weiterdreht.
© Brigitte Hutt April 2021