Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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Großer Wagen am Himmel

Warten aufs Christkind - eine Adventsparabel

Sören und Amelie stritten wieder einmal. Sie waren Nachbarskinder, und nur ein niedriger Zaun trennte die Gärten ihrer Familien voneinander. Da flog schon einmal ein Ball hinüber, oder es verschwand eine Sandschaufel auf der falschen Seite. Egal, was es war, Sören und Amelie fanden einen Grund zu streiten.

- Mein Ball liegt unter deinem Fahrrad! Und du bist drübergefahren!

- Bin ich gar nicht. Aber dein Fahrrad steht vor meinem Trecker.

- Du hast es dahin geschoben!

- Hab ich gar nicht. Du schmeißt es immer irgendwohin.

- Tu ich gar nicht. Und du hast ...

So ging das von einem Gegenstand zum nächsten. Wie es dazu kam? Nun, nicht weiter verwunderlich. Die Kinder waren schon die dritte Generation dieser zwei Familien, die hier Seite an Seite, Zaun an Zaun wohnten. Als ihre Großeltern die Häuser gebaut hatten, war es ungefähr so zugegangen:

- Ihr Zaun ist um zehn Zentimeter zu weit auf unserem Grundstück!

- Ihre Garage ist zwölf Zentimeter auf unserem Grundstück, das ist nur der Ausgleich!

- Der Laster, der Ihren Sand gebracht hat, hat unsere Einfahrt verschmutzt!

- Ihr Gärtner hat sein Laub auf unseren Rasen gekippt!

Und in der nächsten Generation dann:

- Schon wieder liegen Ihre Äpfel auf unserem Rasen!

- Können Sie nicht vor Ihrem eigenen Grundstück parken?

- Der Rhododendron muss weg! Der ragt auf unser Grundstück!

- Ihre Tanne nimmt unserer Terrasse jedes Licht!

Das war die Familiengeschichte von Sören und Amelie. Sie kannten es nicht anders.

Heute ging es nicht nur um Spielzeug. Sören schrie mit aller Kraft:

- Du hast mich bei Frau Fuchs verpetzt! Olle Petze!

- Hab ich gar nicht. Was hast du denn angestellt?

- Gar nichts!

- Wieso habe ich dann gepetzt?

- Du hast zu ihr gesagt, dass ich die Filzstifte versteckt habe!

- Hab ich gar nicht! Das war der Anton!

- Immer steckst du mit dem Anton zusammen!

- Tu ich gar nicht. Der ist doof.

- Ist er gar nicht.

Plötzlich hörten die beiden ein "psst" von der Straße. Und so laut sie auch geschrien hatten, sie verstummten und schauten, woher das Geräusch kam. Es war spät im Dezember, so dass es jetzt, gegen fünf Uhr am Nachmittag, schon dunkel war. Die Kinder sahen nur einen Umriss. Den Umriss eines Erwachsenen. Ein bisschen erschraken sie, denn dass sie immer viel zu laut waren, hatten die Erwachsenen ihnen schon oft gesagt. Angestrengt spähten sie durchs Dunkel, um zu erkennen, wer da draußen stand. Eine Stimme sagte, nein, flüsterte:

- Schaut mal, dort oben!

Unwillkürlich schauten beide Kinder in den Himmel, oder besser, in die Bäume hinauf, unter denen sie standen, den Apfelbaum von Amelies Eltern und die Tanne von Sörens Familie.

Ein Vogel flog auf, flog von der Tanne zum Apfelbaum und ließ sich dort nieder.

- Ja, und?

Beide Kinder hatten es gleichzeitig gesagt, oder besser, geschrien, denn sie waren wie immer sehr aufgeregt.

- Da oben, ganz oben am Himmel! Seht ihr das denn nicht?

Das Flüstern der fremden Gestalt war aufregend. Die Kinder gehorchten und spähten weiter nach oben.

- Da!

Amelie hatte tatsächlich etwas gesehen. Sie hatte jetzt, nach dem Vorbild ihres späten Besuchers, ihre Stimme gesenkt. Sören folgte ihrem Finger und fragte, nun ebenfalls leise:

- Wo?

- Da bewegt sich was. Ein ... Licht?

Der Fremde schaltete sich wieder ein.

- Überlegt mal, was das sein könnte. Ihr wisst, was übermorgen ist?

- Klar. Heiligabend.

Wieder die Stimme:

- Und was passiert da?

- Da kommt das Christkind.

- Und bringt Geschenke.

Das wussten beide Kinder genau. Da waren sie sich einig.

- Und wenn nun hier unten so ein Geschrei ist, was meint ihr, was tut das Christkind?

Die Kinder erschraken. Sie schauten einander unschlüssig an.

- Können wir da was machen?

Amelies Stimme klang ängstlich. Aber es kam keine Antwort mehr. Die Gestalt auf der Straße war verschwunden. Amelie schaute Sören an und zuckte zweimal mit den Schultern. Sören tat es ihr nach.

- Und nun?

Auch Sörens Stimme war ganz klein und unsicher geworden.

- Okay. Wollen wir Frieden machen?

- Okay. Aber ...

- Ja?

- Aber nur bis ... nach den Weihnachtsferien.

Noch einmal erklang von irgendwoher die fremde, leise und doch durchdringende Stimme.

- Weihnachten ist jedes Jahr. Das Christkind möchte jedes Jahr kommen. Wenn es friedlich zugeht.

Sören und Amelie schauten einander unglücklich an.

- Du, Amelie?

- Ja?

- Und wenn nun ... also, gestern, da haben unsere Papas doch auch, hier am Zaun ...

- Ja. Meinst du, das macht dem Christkind was? Ich meine, das kommt doch nur zu uns Kindern, oder?

- Meinst du, das weiß genau, wer hier schreit? Es ist doch dunkel!

Amelie schwieg und kaute auf ihrer Unterlippe.

- Du, Amelie?

- Ja?

- Sollen wir unseren Eltern mal sagen, dass das ... also, dass dann vielleicht das Christkind nicht kommt? Wenn wir nicht Frieden machen?

Amelie nickte, sagte aber:

- Ich trau mich nicht.

Sören streckte ihr seine Hand über den Zaun.

- Wir gehen zusammen, ja? Zuerst zu deinen und dann zu meinen Eltern, ja?

Amelie ergriff die Hand, und sie liefen um den Zaun herum auf Sörens Haustür zu.



Brigitte Hutt 2022

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