Wichteln
Hannelore kam mit einem überaus freundlichen Lächeln und einer mit bunten Sternen beklebten Dose in Hartmuts Büro. Der verdrehte die Augen.
"Oh, nein. Advent. Wichtelzeit."
"Ja! Hier, zieh dein Zettelchen."
"Oh, nein. Letztes Jahr hatte ich das Gefühl, als gäbe es höchstens noch zwei oder drei in der Abteilung, die daran wirklich Spaß hatten, dich eingeschlossen - hast du das mal berücksichtigt?"
Hannelore Gesichtsausdruck war eindeutig gekränkt. Mit der Abteilungssekretärin durfte man es sich nicht verderben. Hartmut ergänzte schnell: "Schau mal. Die Preise steigen, und mit dem Limit ‚Wichtelgeschenke bis zu 5 €' kriegt man fast nur Ramsch. Also gehen die einen über das Limit, und die anderen, insbesondere die, die wenig Geld haben, schämen sich und - irgendwie ist ihnen der Advent ver...dorben."
"Du wolltest ‚versaut' sagen. Ich versaue euch den Advent. Dabei ist das eine so schöne Geste! Man erhält, jeder erhält! ein ganz unerwartetes Geschenkchen von jemand ganz unerwartetem. Das schweißt doch zusammen! Und alle Abteilungen wichteln."
Hartmut seufzte. "Hanne, glaub mir, die wochenlange Grübelei, was ich denn nun meiner Zielperson kaufe, wiegt die Freude über ein Geschenkchen mehr als auf, und wenn das Geschenkchen, das man selbst erhält, dann noch etwas ist, was einem überhaupt nicht liegt ..."
"Aber deshalb ist es ja immer nur etwas Kleines! Nimm doch zum Beispiel ein exotisches Gewürz!"
"Auf das der oder die Beschenkte dann womöglich allergisch ist."
"Musst du alles runtermachen?!"
Jetzt schnell einen guten Gedanken her. Schnell. Aber sie kam ihm zuvor.
"Wie wäre es, wenn wir die Devise ausgeben, niemand kauft etwas, jeder nimmt nur aus seinen Beständen? Also, etwas Kleines?"
"Du meinst, ‚Schrottwichteln'. Schenk, was weg soll. Ich sag dir eines: Trefferquote oder Freu-Quote ist bei der Variante ungefähr gleich wie beim bisherigen Wichteln."
Hannelore drehte sich auf dem Absatz um. Hartmut hatte noch keinen Zettel gezogen. Er sprang auf und hielt sie am Arm fest.
"Pass auf, Hannelore, du kennst doch diese Adventskalender, in denen keine Schokolade ist, sondern immer ein schöner Spruch oder Vers, von alten Philosophen oder Dichtern?"
"Ja ... gibt es auch", erwiderte sie nachdenklich.
"Wenn wir das mal machen? Schenk einen Spruch oder Vers, der dir selbst gut gefällt? Von jemand Großem oder von dir selbst? Jeder kann den ja noch hübsch aufmachen, farbig drucken oder handkolorieren oder kalligraphisch gestalten, oder was immer. Was meinst du?"
Sie nickte zögernd, nickte dann heftiger. "Machen wir. Gebongt. Und dann gebe ich die Parole aus, dass alles jeweils in einen neutralen Umschlag kommt. Mit Namen des Beschenkten darauf. Macht die Sache noch spannender. Super. Komm, zieh einen Namen. Bist erst der zweite, und die andere informiere ich noch."
"Die? Wer?"
"Eine halt. Eine Person. Wir gendern doch, nicht wahr?"
Hartmut nickte und zog einen Zettel, den er erst entfaltete, als Hannelores Schritte schon verklungen waren. Na bestens, ein Eigentor. Die Chefin. Staubtrockene ZEIT-, FAZ- und SZ-Leserin, ‚Feuilleton' konnte sie wahrscheinlich nicht mal buchstabieren (was ihm selbst zugegebenermaßen auch schwer fiel), und als Dr. Weinfeld auf der letzten Betriebsfeier Faust zitiert hatte - ‚Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern' - da hatte sie allen Ernstes gefragt, ob er den Generaldirektor meinte. Und für die sollte nun er? Das war eindeutig der letzte Vorschlag, den er in punkto Wichteln gemacht hatte, das schwor er sich. Zukünftig würde er klaglos in einer der Billigboutiquen ein Kerzlein kaufen, und fertig. Da gab es jedes Jahr andere, da fiel das gar nicht auf. Verflixt, warum war ihm das nicht früher eingefallen. Gleich kam ihm noch ein Dichterspruch dazu in den Kopf: ‚Die ich rief, die Geister ...' Was war das noch gleich? Schillers ‚Glocke'? Oder die ‚Bürgschaft'? Oder die ‚Kraniche des Ibikus' - aus denen hatte seine Mutter immer gern zitiert: ‚Sieh da, sieh da, Timotheus ...'", bei jeder Gelegenheit.
Ja, Mutter. Die hatte doch das Buch über den deutschen Balladenschatz. Da ließ sich sicher was finden. Hartmut seufzte und nahm sich den nächsten Vorgang aus der Ablage.
Mittags in der Cafeteria saßen die Buchhaltungskolleginnen am hintersten Tisch und steckten die Köpfe zusammen. Nanu, gab es Probleme bei den Zahlen? Das war nicht das, was man kurz vor Weihnachten brauchte. Hartmut setzte sich zu Sabrina aus der Öffentlichkeitsarbeit.
"Mahlzeit!", rief er fröhlich.
"Na, du bist aber gut drauf." Sabrina runzelte die Stirn.
"Wieso sagst du das so? Ist was?"
"Nein, natürlich nicht. Nur der übliche Vorweihnachtsstress. Ähm, haben deine Kinder schon ihre Wunschzettel abgegeben?"
"Oh ja, jeder schon den zweiten. Darum kümmert sich erst mal meine Frau. Und bei dir?"
"Ich hab ja nur die Melanie. Und leider keinen Mann, dem ich das aufdrücken könnte."
"Tja, da hab ich es gut. Geteiltes Leid ist eben doch halbes Leid." Verflixt, das war ja ein richtig guter Spruch! Musste er sich gleich notieren. Aber passte der zur Chefin? Überzeugte Eigenbrötlerin und Single?
Er blickte nachdenklich im Raum umher. Gerade kam Winter, der Leiter der Abteilung Verkauf, herein, steuerte auf die Buchhaltungskolleginnen zu und sagte doch tatsächlich, laut genug für alle Umsitzenden: "Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der dritte."
Lautes Lachen antwortete ihm, und schon steckten sie zu dritt die Köpfe zusammen.
"Das war jetzt aber wirklich Goethe, oder?"
Erst als Sabrina trocken antwortete: "Schiller. Die Bürgschaft.", merkte er, dass er laut gedacht hatte. Vorsicht, Hartmut, sagte er zu sich selbst. Nix anmerken lassen. Schnell fragte er Sabrina: "Sag mal, liest du gern die Klassiker?"
Sie lachte. "Nur hin und wieder. Aber Zitate merke ich mir gern. Vor allem die, die man immer mal anbringen kann. Shakespeare ist da groß, aber wenn man seine Verse ins Deutsche übersetzt, kommen sie meistens nur noch halb so gut."
"Zum Beispiel?"
"Na, na, na! Willst mich anzapfen, was?"
Sabrina nahm ihr Tablett, rief: "Man sieht sich", und verschwand.
In den nächsten Tagen erwischte Hartmut sich selbst dabei, wie er im Geist alles notierte, was sich nach guten Sprüchen anhörte, von "Was du nicht willst, dass man dir tu ..." bis zu den Kinderreimen, die vom Hof zu ihm hochschallten: "Aus der Bahn, Kartoffelschmarrn!" oder "Triefnase, Osterhase!"
Seltsamerweise musste er gerade bei dem letzteren immer an seine Chefin denken.
Im Betrieb herrschte eine eigentümliche Stimmung. Die Kolleginnen und Kollegen standen immer wieder in Ecken beisammen, tuschelten, schauten sich um, wenn jemand kam, und stoben dann auseinander, lächelten verschwörerisch oder freundschaftlich, sogar wenn der oder die Angelächelte eigentlich jemand war, dem oder der man früher höchstens sehr kurz zugenickt hatte. Als eine Woche vergangen war und er das selbst ausgedachte Wichtelziel nicht mehr aus dem Kopf bekam, nahm er ein Blatt Papier und schrieb erst einmal alles auf, was in seinem Kopf hängen geblieben war. Die Liste war nicht unerheblich, und doch - nichts passte auf die Chefin. Er besuchte seine Mutter, brachte Zimtsterne mit, plauderte mit ihr und kam dann vorsichtig auf das Buch mit dem Balladenschatz zu sprechen.
"Komisch, dass du fragst - das habe ich deiner Kusine ausgeliehen!"
Ingrid, klar. Arbeitete deren Mann nicht auch in seiner Firma? Na gut, allein weiter grübeln.
"Aber sag mal, weißt du denn wenigstens, woher dieses ‚Die ich rief, die Geister ...' kommt?"
"Sicher, Goethe. Zauberlehrling. Wo die Besen tanzen."
Taugte auch nicht fürs Wichteln. Immerhin, jeden Tag wuchs die Liste um ein paar Zeilen, wenigstens das.
Am Tag der Weihnachtsfeier musste er eine Entscheidung treffen. Zumindest war nichts mehr zu besorgen, aber das war ein schwacher Trost. Müde fischte er nach seinem Blatt - nanu, das hatte er doch in die unterste Schublade gepackt, wo war es denn jetzt nur? Ein Schreck durchfuhr ihn. Vorgestern Abend ... hatte er es ... vermutlich ... auf dem Tisch liegen lassen ... und wenn nun ...?
Schließlich fand er die Liste in der obersten Schublade. Urlaubsreif bist du, Hartmut. So, was nun? Richtig zerfleddert war das Blatt schon, hatte er es wirklich so oft in der Hand gehabt? Und welchen Spruch sollte er nun nehmen? Jetzt kam es darauf an. Na ja, man sagt ja, was lange währt ... - halt, das war ja auch einer! Machte die Sache aber auch nicht leichter.
Nach einer Weile ergebnislosen Brütens strich er erst einmal alles heraus, was ganz und gar nicht zur Chefin passte. Blieben aber noch einige, die wenigstens so halbwegs passten, oder die sie wenigstens nicht falsch verstehen konnte. Meinte er zumindest. Und nun? Da kam ihm die Eingebung: er schnitt sein Blatt in Streifchen für die verbliebenen Sprüche, faltete jeden Streifen, mischte alles in der Bleistiftschale, und dann zog er einen davon heraus. Ich wichtele mit mir selbst, dachte er und musste lachen, prustete beinahe. Meine Güte, bin ich albern.
Kurz entschlossen steckte er das Streifchen in einen Umschlag, schrieb "Frau Dr. Scheuer" darauf und schob ihn in die Hemdtasche; er wollte es gar nicht vorher lesen, er würde ja nur wieder von vorn anfangen, Bedenken zu wälzen.
Da waren noch ein paar E-Mails abzuarbeiten, ein paar Dinge für den nächsten Tag zu notieren, dann streckte auch schon Hannelore ihren Kopf zur Tür herein, mit strahlendem Gesicht, wie ein Kind am Heiligabend: "Kommst du?"
Sie gingen durch den Flur, die Treppe hinunter, zum großen Besprechungsraum.
"So schweigsam, Hartmut? Was ist los?"
Er seufzte. "Ich mag keine Weihnachtsfeiern. Weder mit Schwiegereltern noch mit Vorgesetzten."
Hannelore drückte seinen Arm. "Nun komm, alle freuen sich. Aus allen Abteilungen. Und du hattest doch diese tolle Idee."
Er blieb erschrocken stehen. "Alle? Und wissen etwa alle, dass das meine Idee war?"
Sie lachte. "Weiß nicht. Aber warum denn nicht?"
Kollege Müller kam um die Ecke gefetzt mit einer Schachtel voller Löffelchen und stieß die Tür zum großen Besprechungsraum auf. Die beiden schlüpften mit ihm hinein. Tannengrün, Kerzen, rote Schleifen, silberne Kugeln, Strohsterne. Hartmut musste sich eingestehen, Weihnachtsdeko machte einfach etwas mit den Menschen. Und eines musste man der Chefetage lassen: Die leise Musik im Hintergrund war weder Jingle Bells noch Last Christmas, es war einfach ein wenig ... hm, wohl Mozart. Oder so. Nicht seine Lieblingsmusik, aber es war beschwingt und passte zur Dekoration.
Man legte seine Wichtelumschläge, nach Abteilungen sortiert, auf den so genannten Gabentisch, nahm sich Punsch, suchte sich einen Platz, machte Smalltalk, bis der Generaldirektor an sein Glas klopfte. Kling, Glöckchen, klingelingeling. Er hatte den Rhythmus exakt drauf. Die Gespräche verebbten. Er hielt seine übliche Ansprache, Humor vermischt mit guten Wünschen und Hinweisen darauf, wie schwer doch alle, alle!, er!, gearbeitet hatten. Zuletzt wünschte er allen noch eine schöne Feier und sagte: "Der Gabentisch ist eröffnet!" Alles lachte pflichtbewusst.
Hannelore strebte zum Gabentisch und suchte ihren Umschlag. Mit einem entzückten Quietscher hielt sie ein rotes Papier hoch, das mit goldenen Sternchen geschmückt war. "Geteiltes Leid ist halbes Leid", las sie vor, in einem Ton, als lese sie eine lang erwartete Prophezeiung. Gut, dass ich den nicht genommen habe, dachte Hartmut und trank noch einen Schluck Punsch.
Irgendjemand rief laut: "Wie nett: ‚Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!' Ja, das ist es! Das wird mein Vorsatz fürs neue Jahr! Muss ich mir dafür schon nichts mehr überlegen." Gut, dass ich den nicht genommen habe, dachte Hartmut und trank noch einen Schluck Punsch.
Eine andere Stimme deklamierte: "‚Das Gute - dieser Satz steht fest - ist stets das Böse, was man läßt.' Noch einer von Wilhelm Busch!"
Stand auch auf meiner Liste. Gut, dass ich den nicht genommen habe.
Nicht alle lasen laut vor, aber alle schienen sich zu amüsieren. Die laut vorgelesenen hatten alle auf Hartmuts Blatt gestanden, wunderte er sich. Und bisher gab es, Gott sei Dank, keine Doppelungen.
"Herr Düsberg? Wollen Sie nicht auch mal schauen, was der Weihnachtswichtel gebracht hat?"
Frau Dr. Scheuer stand vor ihm, ein Leuchten im Gesicht, das er noch nie an ihr gesehen hatte. Ihren Wichtelumschlag, seinen Umschlag, in der Hand.
Hartmut starrte auf den Umschlag. Oh je, da war ein Schnipsel drin, ein flüchtig abgeschnittener Streifen, nichts Geschmücktes, Geklebtes, Gemaltes, nicht einmal ein ordentliches Blatt Papier. Wie konnte er nur ... wie sollte er nur ... schnell, bevor sie ihn aufriss ...
Da hielt sie den Umschlag schon triumphierend hoch: Er war bereits offen.
"‚In der Kürze liegt die Würze.' Ist das nicht toll? Minimalistischer Spruch, minimalistisches Papier. Da hat mich einer richtig gut gekannt." Sie schob ihn in Richtung Gabentisch und verschwand in Richtung Direktoriumstisch.
Hartmut starrte ihr mit offenem Mund nach.
"Nun komm schon endlich!" Hannelore. Sie würde nicht nachgeben, bis er seinen Umschlag geöffnet hatte. Also tat er brav, was von ihm verlangt wurde. Nur noch wenige Umschläge lagen dort, gerade riss Sabrina einen auf, las und lachte herzlich.
Hartmut nahm den, auf dem sein Name stand, öffnete ihn langsam und griff hinein. Ich will nicht. Ich will das nicht.
"Nun mach schon! Ich bin so neugierig!"
Ein blassblaues Blatt, oben und unten je eine dunkle Ranke. In der Mitte:
‚So wie es selten Komplimente gibt ohne alle Lügen,
so findet sich auch selten Grobheiten ohne alle Wahrheit.'
Gotthold Ephraim Lessing
Hartmut schaute Hannelore an. Sie las den Spruch interessiert, schaute dann auf. "Passt zu dir, findest du nicht? Alter Pessimist!"
"Unverbesserliche Optimistin!"
Hannelore seufzte tief auf. "Ehrlich, ich bin froh, dass das vorbei ist. Weißt du, ich glaube, so viel Kopfzerbrechen hat uns noch kein Wichteln gemacht. Das haben übrigens so einige gesagt."
"Hast ja recht. Ich bin auch für die Rückkehr zur alten Spielregel."
"Aber weißt du, Hartmut, dass du uns einen Spickzettel gemacht hast, das fand ich wirklich prima!"
Sie klopfte ihm auf die Schulter und ging zum Punsch. Hartmut starrte zum zweiten Mal an diesem Abend mit offenem Mund einer Frau nach. Kerze für fünf Euro, dachte er, Kerze für fünf Euro. Nie mehr etwas anderes.
Brigitte Hutt Advent 2023