Brigitte Hutt - IT-Beraterin und Autorin

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wie Samt

Wie Samt

Sie ließ sich auf die abgewetzte Holzbank fallen, außer Atem und mit klopfendem Herzen. Am Ziel. Oder fast jedenfalls. Neugierig schaute sie sich um. Ein Flur wie vor einem Gerichtssaal; diese Holzbank, der Boden schäbiges Linoleum, Türen ohne Klinken. Nicht, dass sie je ein Gerichtsgebäude von innen gesehen hätte, aber man kannte das ja aus dem Fernsehen. So also sah ein hochmodernes Tonstudio aus!

Hinter einer dieser Türen, so hatte Pit ihr versichert, war er, und dort würde er herauskommen, denn um diese Zeit machten die Techniker Pause. Mit ein bisschen Glück würde er ihr, Carola Mertens, ein paar Worte gönnen, ihr die Hand geben. Sie betrachtete ihre schweißfeuchten Hände und suchte ein Taschentuch, um sie zu trocknen. Dann legte sie sie zu beiden Seiten auf dem kühlen Holz der Sitzbank ab und versuchte sich erst einmal zu beruhigen.

Was hatte sie nicht alles getan für diesen Moment! Kontakte geknüpft, Small Talk mit langweiligen Menschen geführt, diesen und jenen Gefallen getan, Beziehungen strapaziert - bis sie Pit traf, dessen Vater Pförtner hier am UFF-Studio war und der ihr einen Besucherpass besorgt hatte, weswegen sie jetzt hier sitzen konnte. Bald würde er kommen. Hoffentlich. Bald.

Stefan Simmel alias Steve Sims, "Velvetvoice" Steve. Der Mann mit der samtigsten aller Stimmen, den blauesten aller Augen, dem strahlendsten aller Lächeln, das er bald, bald für einen kostbaren Moment ihr schenken würde. Noch einmal trocknete sie ihre Hände, lockerte dann ihre Haare mit geübtem Griff, probte ihr Lächeln.

Stimmen. Kam da jemand, kam da womöglich er? Vor Aufregung krampfte sie ihre Hände um die Vorderkante der Bank. Zwei Männer bogen um die Ecke, würdigten sie kaum eines Blicks, waren schon im Treppenhaus verschwunden. Seufzend lockerte sie den Griff ihrer Hände wieder.

Iiih! Was war das? Offensichtlich hatte da jemand etwas unter die Bank geschmiert oder geklebt, was nun an ihre Hand gewechselt war. Vorsichtig schaute sie nach. Natürlich, Kaugummi. Sie zupfte es mit der freien Rechten ab, wollte es abschütteln, aber es hing an ihr, buchstäblich.

Da öffnete sich eine Tür ihr gegenüber, und sie hörte die Stimme, die Samtstimme, die sie unter tausenden erkannt hätte. Sie schoss hoch, mit einem letzten verzweifelten Versuch, das Kaugummi wieder an der Bank abzustreifen. Das Blut rauschte plötzlich in ihren Ohren. Sie spürte den Boden unter ihren Füßen nicht mehr, sie schwebte. Seine Gestalt, sein Gesicht, seine Augen - direkt vor ihr. Sein Mund bewegte sich, seine Augenbrauen hoben sich fragend - sie verstand kein Wort. Lächeln, kommandierte sie sich selbst, Hallo sagen. Etwas krächzend und wie durch Watte hörte sie ihre eigene Stimme, dann endlich, endlich auch seine wieder, weich, süß. Jetzt ging das mit dem Lächeln wie von selbst. Sie nannte ihm ihren Namen, nickte eifrig auf die Frage, ob sie ein Autogramm wolle, sah ihm zu, wie er eine Karte und einen Stift von seinem Begleiter entgegennahm, wie er "Für Carola forever Steve" kritzelte, den Stift zurückgab, ihr die Karte hinhielt und gleichzeitig die andere Hand zum Gruß ausstreckte.

"Sorry, Carola, hab nur kurz Pause, das Business wartet nicht gern, you know?"

Sie nickte, nahm die Karte mit den Fingerspitzen ihrer Linken und legte ihre Rechte in seine, in seine geliebte, wundervolle, samtweiche Hand, die sie von ganzem Herzen drückte, ohne den Blick von seinen Augen zu lösen.

Die aber wurden zu schmalen Schlitzen, sein Mund verzerrte sich, er sprang zurück, riss seine Hand aus ihrer und schrie: "Hell, was ist denn das für ein shit? Wer zum Henker hat diese kleine bitch hier hereingelassen? Damn, fuck, Kleenex, Charly, pronto!"

Sie erstarrte beim Blick auf seine Hand. Dort klebte, grau und schmierig, das Kaugummi. Der Begleiter zog ein Tuch aus der Tasche, während Steve nicht aufhörte zu fluchen, mit dieser Stimme, die allen Samt verloren hatte, die in Carolas Ohren klirrend zerbrach.

Sie spürte plötzlich wieder den Boden unter ihren Füßen, ja, sie spürte ihre Füße schwer und schwerer werden, fühlte, wie sie hinabsank, tiefer und tiefer, hinab in das Linoleum, das sie umfing wie Samt.

© Brigitte Hutt 2020

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