Was ist der Mensch?
Der Mann legte langsam den Telefonhörer auf und sagte, ohne die Frau anzusehen: "Sie haben ihn."
Die Frau entgegnete leise: "Was heißt das schon."
"Sie werden ihm den Prozess machen. Er wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen."
"Gerecht", sagte die Frau bitter. "Gerecht! Er wird in ein sauberes, trockenes Gefängnis kommen …"
"Zuchthaus", unterbrach der Mann.
"Meinetwegen!" Die Frau redete sich langsam in Wut. "Er wird verpflegt, braucht sich nie mehr Sorgen zu machen, und wer weiß, vielleicht steht er eines Tages wieder draußen und …"
Sie brach ab und fing an zu weinen.
"So weit wird es nicht kommen", tröstete der Mann. "Nicht nach dem, was er Nora angetan hat."
"Was er ihr angetan hat, oh ja!" Die Frau sprang auf. "Er sollte, und nicht einmal das wäre gerecht genug, er sollte Schmerzen erleiden. Die Schmerzen, die er Nora zugefügt hat. Er sollte sich quälen und jammern und leiden, und zuletzt sollte er am Strick baumeln."
"Du weißt ja nicht, was du sagst!", antwortete der Mann zögernd.
"Oh doch. Er sollte fühlen, was sie gefühlt hat. Fühlen musste! Sie hatte keine Chance. Und er sollte auch keine Chance haben. Er sollte hängen, oh ja. Und ganz langsam sterben. Ganz, ganz langsam."
"Das willst du nicht wirklich", meinte der Mann erschrocken. "Er ist doch auch ein Mensch."
"Ist er das? Ist das noch ein Mensch, der so etwas tut?"
"Aber ja. Wer sind wir, ihm seine Würde als Mensch abzuerkennen?"
"Hat er sich die nicht selbst aberkannt?"
Der Mann schwieg.
© Brigitte Hutt 2019