Zurück ...
Robert hatte sich fest vorgenommen, die Zeit des Ruhestands zu nutzen. Kollegen in der gleichen Situation hatten Skatrunden gegründet oder sich Kegelvereinen angeschlossen, aber er, er wollte der Gesellschaft etwas zurückgeben, wie er es nannte. Er wollte in den hektischen Alltag seiner Mitmenschen ein paar Augenblicke des Nachdenkens einbringen.
Er begann damit, täglich einen Spaziergang durch sein Wohnviertel zu machen und die Menschen auf der Straße zu beobachten. Sah er ein Kind, das zu nahe am Bordstein herumhüpfte, zog er es freundlich zurück auf den Gehsteig und wies auf die Gefahren der Straße hin. Sah er, wie jemandem ein Werbeprospekt aus der soeben gekauften Zeitung fiel, hob er ihn auf und gab ihn seinem Besitzer zurück. Stopfte dieser die unerwünschte Beilage dann in einen Restabfalleimer, so erinnerte Robert höflich an Mülltrennung. Selbstverständlich immer in einem freundlichen und verständnisvollen Ton. Und ebenso selbstverständlich wartete er nicht ab, bis ein Dankeswort kam.
Irgendwann dehnte er seine Spaziergänge auch in den nahe gelegenen Tierpark aus, wo er das eine oder andere weinende Kind zu seiner Mutter zurückführte. Etwas größere jugendliche Besucher beobachtete er dabei, wie sie Brot oder anderes durch die Gitter der Gehege steckten oder gar den zutraulicheren Tieren direkt unter das Maul hielten. Freundlich wies er sie darauf hin, dass das verboten sei und warum. In der Regel war die Reaktion, dass die Kinder und Jugendlichen einander Blicke zuwarfen und dann wegliefen. Nun, Robert erwartete auch hier keinen Dank, er wollte sich ja nur einbringen.
Wenn er abends von seinen Spaziergängen heimkam, war er oft erschöpfter als zu früheren Zeiten am Feierabend. Erschöpfter, aber zufriedener. Dann kochte er sich seinen Kräutertee, schaute ein wenig aus dem Fenster und sah dabei meistens schon, wohin er als nächstes seine Schritte richten sollte.
Graffiti nannte man das ja wohl. In seiner Jugend hatte es noch Schmiererei geheißen. Je frischer gestrichen eine Hauswand, desto mehr reizte sie anscheinend zum Bemalen oder Besprühen. Von Ästhetik konnte da keine Rede sein, ganz abgesehen davon, dass das ja auch Sachbeschädigung war. Aber niemals erwischte er einen Graffitisten - oder wie nannte man die? - auf frischer Tat.
Robert überlegte. Das waren keine Kinder mehr, das waren keine Schuljungenstreiche. Und die das taten, wussten vermutlich ganz genau, dass es strafbar war. Also machten sie es wohl im Schutz der Dunkelheit. Robert seufzte. Er war abends gern zu Hause, aber hier musste er tätig werden. So hatte er es sich vorgenommen. An einem noch milden Herbstabend, als die Dunkelheit einigermaßen früh ihren Mantel über die Stadt legte, zog er los, Richtung Neubauviertel, wo er fast jede Woche neue Schmierereien beobachten konnte. Er traf keinen dieser Maler und Sprüher an, aber er gab nicht so schnell auf. Und richtig, eine Woche später war dort einer am Werk. Dunkle Jacke, Kapuze über den Kopf gezogen, warf er mit schnellen Bewegungen große Buchstaben an die mannshohe Mauer, die eine der Neubaustraßen vom Kindergartengelände trennte.
"Schade das Beton nicht brennt", entstand da.
Nicht einmal richtiges Deutsch, wie traurig, dachte Robert. Er überquerte die Straße und sprach die schmächtige Person - war es ein Mann oder eine Frau? - von hinten an.
"Entschuldigen Sie, das dürfen Sie nicht!"
Die Person fuhr herum, stieß Robert beiseite und rannte in wilden Sätzen davon.
Robert stolperte, glitt vom Bordstein ab und fiel auf die Knie. Es tat weh, richtig weh, und er brauchte einen Moment, bevor er sich wieder aufraffen konnte.
"Haben Sie sich wehgetan?", hörte er eine weibliche Stimme. Er schaute auf und in die Augen einer Frau mittleren Alters. Sie streckte ihm eine Hand hin, und er ließ sich dankbar aufhelfen.
Vorsichtig klopfte er sich die Knie ab. Auch die Hände, auf die er sich beim Fallen gestützt hatte, brannten ein wenig. Aber er konnte stehen und gehen.
"Es ist gut. Und vielen Dank, meine Dame!", antwortete er seiner Retterin.
"Wie ist denn das passiert?", fragte sie.
"Ach, wissen Sie, ich habe beobachtet, wie jemand das hier", er wies auf die frische Schrift, "aufgemalt hat. Oder aufgesprüht. Und ich habe ihm ganz höflich gesagt, dass das nicht erlaubt ist. Da hat er mich gestoßen."
Die Frau lachte ein wenig. "Na ja, da sind Sie selber Schuld", meinte sie dann trocken, "Dass das verboten ist, wissen die doch! Drum tun sie es ja!"
Sie schüttelte den Kopf und ging davon. Robert schaute traurig auf die verunstaltete Mauer und humpelte nach Hause. Sie tun es, weil es verboten ist, überlegte er immer wieder. Wie traurig.
Das linke Knie schwoll an, und die Schmerzen nahmen in den nächsten Tagen eher zu als ab, so dass Robert endlich beschloss, einen Arzt aufzusuchen. Der schickte ihn zu einem Röntgenfacharzt, zu dem Robert mit der U-Bahn fahren musste. Auch den U-Bahnhof zierten diverse Graffitis. Sie tun es, weil es verboten ist, sie tun es, weil es verboten ist. Robert seufzte.
In einer Ecke des U-Bahn-Zwischengeschosses standen zwei junge Männer und eine Frau. Alle waren tätowiert, und die Frau hatte mindestens drei Ohrringe in jedem Ohr sowie grüne Haare. Sie redeten lautstark und lachten, es schien, als hätten sie getrunken. Am Boden standen auch zwei Bierflaschen. Robert konnte nicht anders, er starrte die drei an. Gern hätte er mit ihnen geredet, aber sein schmerzendes Knie erinnerte ihn an die letzte Begegnung mit sonderbaren Menschen.
Die junge Frau stand in seiner Blickrichtung, und plötzlich rief sie herüber: "Was ist, Alter? Noch nie junge Leute gesehen?"
Robert war ein höflicher Mensch, und so trat er einen Schritt näher und antwortete: "Ich habe lediglich Ihre Haare ... bewundert."
Die jungen Männer hatten sich zu ihm umgedreht, und nun lachten alle drei. Das machte Robert Mut und er sagte: "Darf ich Sie etwas fragen?"
"Na klar, immer doch", meinte die Frau, "wenn wir helfen können, warum nicht!"
Robert wies auf die Graffitis am Eingang des U-Bahnhofs. "Können Sie mir sagen, warum man das macht?"
Die drei schüttelten fragend die Köpfe, und einer der Männer fragte zurück: "Warum man was macht?"
"Warum beschädigt man Wände, wen man genau weiß, dass das verboten ist?"
Jetzt lachte keiner mehr. Der größere der Männer kam ein paar Schritte auf Robert zu und fragte: "Was willst du damit sagen, Alter?"
Robert wich einen Schritt zurück. "Ich möchte verstehen, warum man das macht, das habe ich doch gerade gesagt", antwortete er unsicher.
"Was unterstellst du uns, hä?"
"Aber gar nichts, gar nichts! Ich dachte nur, vielleicht wissen Sie ... also, ich dachte, Sie sind doch eher mit solchen Leuten bekannt als ... als ich."
Der Mann kam noch einen Schritt näher. Roberts Knie zitterten und schmerzten. "Hören Sie", sagte er, "ich wollte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, nichts unterstellen. Nur ...", seine Stimme versagte ihm.
Der junge Mann stieß ihm einen Finger in die Brust. "Hör zu", sagte er, und seine Stimme klang rau, "ich erklär dir mal was. Leute wie du, die nehmen uns nicht ernst. Leute wie du, die geben uns keine Arbeit. Und daher haben wir wenig zu lachen. Also machen wir uns was zu lachen. Denn Lachen ist gesund, klar?"
Der Mann machte eine Pause, und Robert nickte.
Der Mann fuhr fort: "Und Leute wie du, die haben Knete für tolle Bauten, für Häuser und Brücken und so. Für Mauern. Und wir, wir haben mal gerade Knete für ein bisschen Farbe. Also zeigen wir euch, dass euch eure tollen Mauern nichts nutzen. Klar?"
"Aber ...", fing Robert ganz leise an und verstummte gleich wieder.
"Ja?"
"Aber was haben Sie denn davon?"
Die drei schauten sich an und grinsten. Der Mann, der bisher noch nicht gesprochen hatte, machte eine wegwerfende Handbewegung, zog ein Päckchen Zigaretten aus seiner Tasche und zündete sich eine an. Robert wies mit zitterndem Finger auf Zigarette und Flamme und sagte: "Das … das ist hier …"
"Ja? Was?"
"Verboten", flüsterte Robert.
"Und?", fragte der größere wieder, "was willste dagegen tun, Alter?"
Er kam Schritt für Schritt näher, und Robert wich Schritt für Schritt zurück. Hilfesuchend schaute er sich um, aber die Menschen, die den Bahnhof betraten oder verließen, kümmerten sich nicht um die Szene.
"Bitte", sagte Robert höflich, "bitte machen Sie die Zigarette aus."
"Sonst?", fragte der Raucher und blies ihm Qualm ins Gesicht.
"Nichts sonst", sagte Robert verzweifelt, "ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen ..."
"Komm, lass ihn doch", meinte die junge Frau. Aber der größere Mann kam weiter Schritt für Schritt näher, und Robert wich Schritt für Schritt zurück. Als er mit dem Rücken an den Fahrscheinentwerter stieß, stolperte er gegen seinen Bedroher, der ihn instinktiv zurückschubste, nur ein ganz klein wenig, aber genug, dass Robert auf die Rolltreppe taumelte, dort ausrutschte und hilflos mit den Armen ruderte.
Er spürte einen harten Griff, einen Ruck. Der junge Mann hatte seinen Arm gepackt und ihn von der Rolltreppe weggezogen.
"Alterchen, was machste!", rief er und stellte Robert auf die Beine. Die Frau kam heran und zog sein Jackett zurecht. Der andere Mann kam stirnrunzelnd näher, musterte Robert genauestens und hielt ihm dann eine Bierflasche hin. Robert nahm sie automatisch und setzte sie an. Er merkte plötzlich, wie durstig er war und trank, trank, trank. Als er die Flasche mit einem tiefen Seufzer absetzte, sah er die drei jungen Leute - lächeln.
"Siehste", sagte der, der ihm die Flasche gegeben hatte, "geht doch. Nicht so hastig, in deinem Alter. Klaro?"
Er nahm ihm die Flasche wieder ab, woraufhin ihm die junge Frau eine andere, bunte Flasche in die Hand drückte. Der größere Mann klopfte Robert noch einmal auf die Schulter, dann zogen sich alle drei wieder in ihre Ecke zurück und setzten ihre Gespräche oder was immer fort, als wäre nichts geschehen.
Robert schüttelte den Kopf, als müsse er eine Biene vertreiben. Dann verließ er, noch etwas taumelnd, den U-Bahnhof. Erst draußen betrachtete er die Flasche, die er in der Hand hielt. Die Aufschrift war englisch. "Montana Chalk Spray", las er, und: "Pink".
Robert sah sich etwas hilflos um. Dann zog er den Deckel von der Flasche, richtete die Öffnung gegen die Mauer, die den U-Bahn-Abgang einfasste, holte tief Luft und drückte den Knopf. Nach den ersten Schnörkeln wurde er lockerer, und schwungvoll entstanden die Buchstaben: "Yeah".
Das H am Schluss kam schon etwas blässlich, und Robert begriff, dass die Flasche wohl leer war. Mit Schwung warf er sie in einen Abfalleimer - Ordnung muss sein - und ging, nur ganz wenig hinkend und schwankend, nach Hause. Am nächsten Tag rief er im Kegelverein an.
© Brigitte Hutt Juli 2019